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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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der Flut hinausschwimmt!«
    »Chico«, sagte Tom. »Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Ich will das Eis nicht für dich holen.«
    »Dann gehe ich eben selbst. Hört, Jungens, schichtet da vorn den Sand auf, damit ihr die Wellen aufhaltet. Ich gebe euch pro Kopf fünf Dollar. Nun macht schon!«
    Die Gesichter der Jungens waren in der Sonne, die jetzt an den Horizont stieß, rosa und bronzefarben, und bronzefarben waren auch ihre Augen, die Chico ansahen.
    »Mein Gott«, sagte Chico, »so was ist besser als graue Ambra suchen!« Er lief auf die nächste Düne und rief: »An die Arbeit!« und war verschwunden.
    Jetzt standen Tom und die beiden Knaben allein bei der einsamen Frau am Nordfelsen, und die Sonne war schon zu einem Viertel unter den westlichen Horizont hinabgesunken. Der Sand und die Frau färbten sich rosa und golden.
    »Nur eine kleine Linie«, flüsterte der zweite Junge. Er strich mit seinem Fingernagel leicht unter dem eigenen Kinn entlang. Er nickte zu der Frau hinüber. Tom beugte sich wieder vor und sah die feine Linie auf beiden Seiten unter ihrem festen weißen Kinn, die kleine, kaum erkennbare Linie, wo die Kiemen saßen oder gesessen hatten, die jetzt fest verschlossen und fast unsichtbar waren.
    Er betrachtete das Gesicht und die langen, in Form einer Leier auf dem Strand ausgebreiteten Haarsträhnen.
    »Sie ist schön«, sagte er.
    Der Knabe nickte, ohne sich dessen bewußt zu sein.
    Hinter ihnen hüpfte eine Möwe rasch von den Dünen herab. Die Jungen drehten sich erschrocken um.
    Tom spürte, wie er zitterte, und er sah, daß die Jungen ebenfalls zitterten. Ein Auto hupte. Sie blickten plötzlich ängstlich zur Straße hinüber.
    Eine Welle ergoß sich über den Körper und bildete um ihn einen klaren weißen Wasserteich.
    Tom winkte die Jungen zur Seite.
    Eine Welle schob den Körper drei Zentimeter nach vorn und sechs Zentimeter zurück ins Meer.
    Die nächste Welle schob ihn fünf Zentimeter hinauf und zehn Zentimeter hinunter.
    »Aber…«, sagte der erste Junge.
    Tom schüttelte den Kopf.
    Die dritte Welle hob den Körper einen halben Meter ins Meer hinaus. Die nächste trieb ihn wieder ein Stück den Sand hinauf und dann einen Meter weit hinab.
    Der erste Junge schrie auf und lief ihm nach.
    Tom folgte ihm und hielt ihn am Arm zurück. Der Knabe sah hilflos, ängstlich und traurig aus.
    Einen Augenblick lang kamen keine neuen Wellen. Tom betrachtete die Frau und dachte, es ist wahr, sie ist wirklich da, sie gehört mir… aber… sie ist tot. Oder sie wird es sein, wenn sie hierbleibt.
    »Wir können sie doch nicht hinaustreiben lassen«, sagte der erste Junge. »Das können wir einfach nicht tun!«
    Der andere Junge trat zwischen die Frau und das Meer. »Was würden wir denn mit ihr machen, wenn wir sie dabehielten?« fragte er Tom.
    Der erste Junge versuchte zu überlegen. »Wir könnten… wir könnten…« Er verstummte und schüttelte den Kopf. »O mein Gott.«
    Der zweite Junge trat beiseite und gab einen Pfad frei zwischen der Frau und dem Meer. Die nächste Welle war sehr hoch. Sie kam herein, rollte zurück, und der Sand war leer. Das Weiße, die schwarzen Diamanten und die langen Harfensaiten waren verschwunden. Der Mann und die Knaben standen am Ufer und blickten hinaus, bis sie den Lastwagen hörten, der hinter ihnen die Dünen hinauffuhr. Die Sonne war gesunken.
    Sie vernahmen rasche Schritte und laute Rufe auf den Dünen.
     
     
    Schweigend fuhren sie in dem leichten Lastwagen mit den dicken Profilreifen an der Küste zurück, über der die Dunkelheit hereinbrach. Die beiden Jungen saßen hinten auf den Säcken mit den Eisblöcken. Nach einer Weile fing Chico an, vor sich hin zu fluchen und aus dem Fenster zu spucken.
    »Dreihundert Pfund Eis! Dreihundert Pfund Eis! Wohin jetzt damit? Und ich bin klatschnaß, bis auf die Haut durchgeweicht! Du hast dich nicht mal von der Stelle gerührt, als ich hinausschwamm und im Wasser suchte! Du Idiot! Du hast dich aber auch gar nicht geändert! Wie vorher, wie immer, du tust nichts, gar nichts, du stehst nur da und starrst in die Luft!«
    »Und ich frage dich, was hast du getan?« sagte Tom müde und blickte vor sich hin. »Dasselbe, was du immer getan hast, genau dasselbe, nichts Neues. Du hättest dich sehen sollen.«
    Sie setzten die Jungen vor ihrem Strandhaus ab. Der Jüngste sagte mit kaum hörbarer Stimme in den Wind hinein: »Ach Gott, niemand wird es glauben…«
    Die beiden Männer fuhren weiter die Küste

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