Medusa
noch etwa hundertfünfzig Meter, und ausgerechnet jetzt begann Irene durchzudrehen. Dabei hatte er so darauf gehofft, dass sie wieder einen klaren Kopf hatte. Aber das war jetzt nebensächlich. Er konnte sich in diesem Moment nicht um ihr Wohlbefinden kümmern. Jede Sekunde war kostbar. Er schickte sich an, wieder durch das Okular zu blicken, als sich ein kleiner Salzmoskito auf seiner Nase niederließ. Durand blickte sich um. Die Luft war erfüllt von Schwärmen dieser winzigen Blut saugenden Insekten. Merkwürdig. Wo diese Biester waren, musste auch Wasser sein. Vor ihnen verliefen die Spuren der Dromedare weiter geradeaus. Gleichzeitig bemerkte er eine feine Stufe im Sand, die sich bis zum Horizont zog. Eine Stufe? Hier? Auf einmal war er hellwach, sämtliche Warnlampen blinkten. Alles deutete darauf hin, dass sie drauf und dran waren, in eine Falle zu laufen.
»Halt auf der Stelle an! Irene, hörst du mich? Ich rede mit dir. Irene!«
Doch statt einer Antwort drangen nur wirre Wortfetzen an sein Ohr. Panik ergriff ihn. Sie reagierte nicht, ganz in Gegenteil: Sie setzte die Fahrt mit unverminderter Geschwindigkeit fort. Durand ließ sich wie ein Stein ins Innere des Fahrzeugs fallen, um zu retten, was zu retten war. Doch in diesem Moment gab es einen kleinen Ruck, und sie befanden sich jenseits der Stufe.
»Halt an!«, kreischte er, während er versuchte, ihr ins Lenkrad zu greifen. »Du sollst anhalten, verflucht noch mal!«
Irene blickte ihn aus ihren unergründlichen Sphinxaugen an und trat aufs Gas.
Ein Knacken wie von berstendem Eis drang an ihre Ohren. Der Boden vibrierte. Hannah, die sich während der letzten Sekunden in die Arme von Chris verkrochen und ihren Kopf an seine Brust gedrückt hatte, blickte auf. Vor ihren Augen begann das schwarze Monster im Sand zu versinken, unaufhörlich, Zentimeter für Zentimeter sackte das Heck weg. Dieser Anblick war so befremdlich, dass Hannah sich nicht länger beherrschen konnte. Sie musste sich dieses Schauspiel aus der Nähe ansehen.
»Halt, wo willst du hin?« Chris hatte sie am Arm gepackt. »Es ist viel zu gefährlich. Die Salzkruste ist jetzt überall rissig. Du würdest versinken, genau wie sie. Hier, nimm das.« Er reichte ihr das kleine Fernglas, das er stets bei sich trug.
Es dauerte eine Weile, doch dann sah sie es. »Mein Gott, da ist Irene. Dieser Schweinehund von Durand hat Irene als Gefangene bei sich.«
Sie setzte das Glas ab und reichte es Chris, damit er sich selbst überzeugen konnte. »Du hast Recht«, murmelte er. »Sie scheinen miteinander zu kämpfen.«
»Wir müssen ihr helfen. Wir müssen versuchen, sie aus diesem Auto zu befreien. Kommt mit!« Damit sprang sie auf und rannte los.
Das Geräusch, das der Wagen von sich gab, als er sich zur Seite neigte und zu sinken begann, war Ekel erregend. Es klang wie das Schmatzen einer großen hungrigen Schnecke, die ihr Opfer einsaugte. Mit Entsetzen sah Durand, wie sich die Kruste aufwölbte, zerbrach und einen Blick auf den darunter liegenden grünlichen Salzbrei freigab. Angst ergriff sein Herz mit eiserner Faust. Er wusste, was es bedeutete, in einem Salzsumpf zu versinken, hatte er doch vor vielen Jahren einen seiner Kameraden in einer sebkah verloren. Es war ein langsamer, qualvoller Tod gewesen, und die Schreie seines Kameraden hatten ihn noch jahrelang in seinen Träumen verfolgt.
Das Fahrzeug war bereits so tief eingesunken, dass der Salzbrei an seiner Tür hochschwappte. Der nahe Tod ließ ihn auf einmal ruhig werden, und sein Soldatenverstand begann mit der Präzision eines Uhrwerks zu arbeiten.
»Raus hier, Irene, aufs Dach. Schnell, schnell!« Mir flinken Bewegungen schwang er sich durch die Luke auf das stark geneigte Autodach und zog Irene hinter sich her. Wie er ihrem verwirrten Blick entnahm, hatte sie von dem ganzen Ausmaß ihrer Misere noch nichts bemerkt. Sie hockte nur da und klammerte sich an ihn wie ein verängstigtes Kind. Während er beruhigend mit seiner Hand über ihren Kopf strich, sondierte er die Lage. Rund um das Auto war die Salzkruste viele Meter weit aufgerissen. Durand stellte mit Schrecken fest, dass sie verloren waren. Die sebkah wurde von den Tuareg als Fluch Allahs bezeichnet, und er konnte dieser Einschätzung nur beipflichten. Was sie einmal in ihrer Gewalt hatte, das gab sie nicht mehr her. Es gab kein Entkommen.
In diesem Moment bemerkte er, dass eine einzelne Person das Lager verlassen hatte und mit zaghaften und vorsichtigen Schritten auf
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