Medusa
gezogener Schnauze und kurzem Fell. Einer hatte den Hinterlauf der Antilope erwischt und hielt ihn mit seinen gewaltigen Zähnen gepackt. Der andere hatte sein Gebiss in den Hals des Tieres geschlagen. Ein bedrohliches Knurren drang aus ihren Kehlen.
Hannah wankte zurück und ließ sich auf einen flachen Felsen sinken. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihren Rucksack und holte die Wasserflasche heraus. Das kühle Nass tat ihr gut. Sie schloss die Augen für einige Augenblicke und spürte, wie die Schwäche verflog. Als sie wieder aufblickte, stand ein Targi vor ihr, ein männlicher Tuareg. Seine Augen leuchteten aus dem dunkelblauen Gesichtsschleier.
»Ça va?« Seine Stimme war voll und klar. Er sprach ein akzentfreies Französisch. Zu verblüfft, um Angst zu empfinden, nickte sie und zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht.
»Oui. Tout va bien. Merci.« Sie wischte sich den Staub aus dem Gesicht. Der Targi nickte. Dann drehte er sich um und ging hinüber zu der Antilope. Erst jetzt begriff sie, dass die Hunde ihm gehörten. Auf ein Zeichen ihres Herrn hin ließen sie das Tier los und legten sich einige Meter abseits mit lauerndem Blick ins Geröll. Oben auf der Felskante entdeckte Hannah zwei Pferde, herrliche, pechschwarze Tiere. Sie scharrten aufgeregt mit den Hufen, als würden sie ungeduldig auf Befehle ihres Meisters warten. Hannah wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Antilope zu und erschrak. Das Tier hatte sich durch den Sturz etliche Schürfwunden zugezogen, doch es lebte. Es stand unter Schock und lag apathisch auf der Seite. Der Targi streichelte mit der Hand für einige Momente beruhigend über die Nüstern des Tieres. Dann drehte er den Körper mit einer kraftvollen und doch sanften Bewegung, bis die Antilope auf dem Rücken lag. Es war verblüffend zu sehen, wie sie all das willenlos mit sich geschehen ließ. Die Beine angewinkelt, lag sie absolut regungslos und starrte in die Luft.
Hannah hielt den Atem an, während der Targi ein Messer zog. Mit einer beinahe zärtlichen Geste öffnete er den Brustkorb unterhalb des Rippenbogens. Dann befreite er seinen rechten Arm vom schützenden Stoff des Gewandes und führte seine Hand in den Körper des Tieres, dorthin, wo das Herz sein musste. Hannah betrachtete die Szene voller Faszination. Es blutete kaum. Die Augen der Antilope waren von Frieden erfüllt, und fast schien es, als erwartete das Tier den eigenen Tod mit Zuversicht. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Lebewesen gewaltsam aus dem Leben schied. Die Hand des Targi drückte auf das Herz, verlangsamte seinen Schlag und brachte es schließlich zum Stillstand. Hannah sah verwundert, wie der Körper der Antilope erschlaffte und ihre Augen stumpf wurden.
Mit geschickten Bewegungen schnitt der Targi die Innereien aus dem Tier und stopfte den größten Teil davon in einen ledernen Sack. Stücke des Darms verfütterte er an die Hunde, die mit großem Eifer ihren Anteil an der Beute in sich hineinschlangen. Von den Nieren schnitt er zwei Stücke ab, eines für sich und eines für Hannah. Als sie zögerte, nickte er ihr aufmunternd zu. »Hier nehmen Sie. Ist gut für die Nerven. Stärkt das Blut.«
Sie wusste, dass es einer Beleidigung gleichgekommen wäre, diese Geste abzulehnen. Also griff sie nach dem daumengroßen Stück und steckte es sich in den Mund. Es war warm, schmeckte nach Blut und war überraschend zart. Dennoch rebellierte ihr Magen. Nahezu ungekaut schluckte sie das ganze Stück hinunter und versuchte die aufsteigende Übelkeit zu verdrängen. Der Targi erhob sich, während er den Schleier, der sein Gesicht vor Sand und Sonne schützte, ablegte. Hannah war überrascht, als sie das Gesicht eines alten Mannes erblickte. Fünfzig, vielleicht sechzig Jahre alt mochte er sein. Die Haare, die das wettergegerbte Gesicht einfassten, begannen bereits grau zu werden.
»Kore. Kore Cheikh Mellakh, vom Stamm der Kel Ajjer «, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Sie schlug ein. Dann führten beide ihre rechte, reine Hand zum Herzen. Hannah lebte lang genug in Algerien, um die Gepflogenheiten zu kennen.
»Hannah Peters. Ich bin Archäologin; studiere und katalogisiere steinzeitliche Felsmalereien.«
»Ah, die Frau, die mit den kel essuf spricht. Ich habe von Ihnen gehört.«
»Ich hoffe, nur Gutes.«
»Ehrlich gesagt, die Menschen hier halten Sie für verrückt. Eine Frau, die ganz allein zu den Geistern geht, muss verrückt sein, sagen sie. Kein Tuareg würde freiwillig dorthin gehen,
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