Medusa
verstehen, warum diese Periode so geheimnisumwittert ist.«
Aufgeregtes Gemurmel erfüllte die Schlucht. Die Figuren waren in der Tat bizarr. Schwebende, lang gestreckte Körper mit Köpfen, die einem Science-Fiction-Film entsprungen sein konnten. Frauen mit übereinander angeordneten Brüsten und vorgewölbten Bäuchen. Fliegende Gestalten, deren Leiber mit Ornamenten und Tätowierungen überzogen waren. Antennen, Helme, Stacheln und Raumanzüge. Kein Wunder, dass frühe Forscher geglaubt hatten, die Menschen der Urzeit hätten Wesen aus dem Weltall abgebildet. Natürlich war man sich heute längst einig, dass die Jäger, die diese Zeichnungen anfertigten, einen ausgeprägten Körperkult gepflegt und es offenbar geliebt hatten, sich mit fantasievollen Attributen zu schmücken. Doch soweit Chris feststellen konnte, fand sich auch hier kein Hinweis auf das rätselhaftes Verschwinden dieser Kultur.
Er wandte sich an Hannah. »Die Bilder sind großartig. Aber so ganz verstehe ich die Aufregung nicht. Immerhin wurden ähnliche Funde bereits bei Tan Zoumaitak und Tin Aboteka gemacht.«
Hannah nickte anerkennend. »Das ist wahr. Die Bilder der Rundkopf-Epoche sind in der gesamten Sahara verbreitet. Was es allerdings nirgendwo gibt, ist eine Vermischung der Stile. Die einzelnen Phasen frühmenschlicher Malerei sind streng getrennt, die Fundorte liegen weit auseinander. Aber nicht in dieser Schlucht.« Ihre Augen glitzerten. »Bitte folgt mir zu Abschnitt zwei.«
Chris schob sich an Malcolm und Irene vorbei, um direkt neben Hannah gehen zu können. Nach einer weiteren Biegung befanden sie sich unvermittelt inmitten einer weiteren Gruppe exotischer Darstellungen. Nur dass es sich diesmal nicht um Malereien, sondern um Ritzungen handelte. Irene schlug die Hände vor den Mund. »Sagenhaft. Ich glaube das einfach nicht. Seht euch diese wundervollen Tiere an. Elefanten, Nashörner, Giraffen. Sie sind schöner als alles, was ich bisher gesehen habe.«
Chris stimmte ihr im Stillen zu. Sein fachkundiger Blick glitt über eine sieben Meter hohen Giraffe auf der gegenüberliegenden Felswand. Mehrere maskierte Jäger hatten sie umzingelt und schleuderten Speere auf das Tier. Daneben stand eine Elefantenkuh, die ihr Kalb vor dem Angriff eines Leoparden schützte. Hannah, die das Staunen sichtlich genoss, unterbrach das erregte Geflüster.
»Schön, nicht wahr? Was ihr hier seht, ist in der Tat einmalig in der gesamten Sahara. Ein Ort, der mehrere Stilrichtungen vereint, und zwar in chronologischer Abfolge. Im ersten Abschnitt habt ihr Rundkopf-Malereien gesehen. Die Ritzungen hier stammen aus der Jägerperiode, sind also älter. Wegen der häufigen Darstellungen des damals noch lebenden Wildrindes wird sie auch Bubalusperiode genannt. Die hier angewandte Technik beruht im Wesentlichen darauf, dass man mit einem harten Stein in den weichen Fels ritzte und die Kerbe anschließend glatt polierte. Auf diese Weise entstanden Bilder, die uns einen hervorragenden Einblick in das Leben vor etwa zehntausend Jahren vermitteln. Und genau wie bei den Rundköpfen ist auf der einen Seite die Jagd dargestellt und auf der anderen …«, sie deutete auf die Darstellung über ihren Köpfen, »… das Leben im Dorf.«
Chris konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Die Bilder waren, gelinde gesagt, pornografisch. Hier hatten sich die Künstler regelrecht ausgetobt. Männer mit riesigen Geschlechtsteilen waren dort zu sehen, denen sich Frauen in aufreizenden Posen anboten, sowie Dorfschönheiten, die sich mit mehreren Männern gleichzeitig paarten. Jäger, die Elefanten begatteten, dazwischen seltsame Kreaturen, halb Tier halb Mensch, deren gewaltiger Phallus bis zum Boden reichte. Chris bemerkte, dass sogar Irene, die er für ziemlich abgebrüht hielt, vor Scham verstummte. Hannah indessen überspielte die zotigen Bemerkungen von Patrick und Gregori mit bewundernswerter Gelassenheit. »Wenn man das sieht, bekommt man den Eindruck, dass die menschliche Zivilisation in Sachen Sexualpraktiken in den letzten zehntausend Jahren etwas verarmt ist. Aber mal im Ernst, wie würdet ihr diese seltsamen Kreaturen mit den überdimensionalen Geschlechtsteilen deuten?«
Albert Beck schob seine Nickelbrille nach oben. »Es ist doch ein Volk von Jägern, und alle Jagdkulturen hatten eine ausgeprägte Götterwelt. Wäre es da nicht logisch zu behaupten, dass diese Figuren Gottheiten darstellen? Tiergötter, die auf die Erde gekommen sind, um mit den Frauen
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