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Medusa

Medusa

Titel: Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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den es hier eigentlich gar nicht geben durfte. Eine Skulptur. Gefertigt aus schwarzem, hartem Basalt. Was für ein Rätsel verbarg sich dahinter? Die Künstler der Frühzeit mochten begnadete Maler und Zeichner gewesen sein, doch Bildhauer waren sie bestimmt nicht. Und dennoch stand die Skulptur so real und plastisch vor ihnen, dass Chris nur eine einzige Frage in den Sinn kam.
    »Ist die echt?«
    »O ja«, antwortete Hannah. »Ich habe Proben der Gesteinsoberfläche an die Kernforschungszentren in Jülich und Karlsruhe geschickt. Dort wurden sie anhand des natürlichen radioaktiven Zerfalls der Blei-Isotope datiert. Die Ergebnisse variieren leicht, aber man kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass diese Figur vor dreizehntausend Jahren aus dem Fels gemeißelt wurde. Also tausend Jahre vor Entstehung der Jägerbilder und ganze viertausend Jahre vor den Rundköpfen, zu einer Zeit also, als ganz Europa noch von einer dicken Eiskruste überzogen war. Als Cromagnon-Menschen in dicken Fellen über die winterlichen Ebenen Europas zogen, um Mammuts und Wollhaarnashörnern nachzustellen. Damit ist sie das älteste Zeugnis künstlerischen Schaffens in der gesamten Sahara.«
    Chris runzelte die Stirn. Die Skulptur war in der Tat erstaunlich. War das ein Insekt, ein Oktopus oder nur ein Hirngespinst? Aus einem sackförmigen Körper staken sieben Auswüchse, die wie Schlangen in die Luft ragten. Ihre Durchmesser betrugen etwa fünf Zentimeter, ihre Länge einen knappen Meter. Sie waren derart kunstvoll aus dem Stein gearbeitet, das sie sich zu bewegen schienen. Über ihre ganze Länge hinweg waren sie mit Ringen überzogen, und die Enden waren gekerbt. Dort, wo sie in den Kopf, oder was immer es war, mündeten, befanden sich Verdickungen. Der Kopf selbst war, bis auf ein einziges Auge, völlig amorph. Es gab keine Strukturen, Untergliederungen oder Symmetrien. Lediglich ein feines Netzmuster ließ sich bei genauer Betrachtung erkennen. Das Auge allerdings verdiente besondere Aufmerksamkeit. Es sah ganz anders aus als das Auge von Tieren. Die Lider waren senkrecht angeordnet, und die Pupille wies eine sternförmige Dreiteilung auf. Umschlossen von mehreren Lagen Hautfalten, wirkte es reichlich unheimlich. Die Gestalt sah aus, als wäre sie eben erst aus dem Fels gekrochen. Wer immer sie gefertigt hatte, er war ein Meister seines Fachs gewesen. Bemerkenswert war überdies die Tatsache, dass sie aus schwarzem Basalt gehauen war, einem Material, das im Sandsteingebirge des Tassili N’Ajjer überhaupt nicht vorkam. Chris wich einen Schritt zurück. Die anderen Gruppenmitglieder taten es ihm gleich. Niemand wollte der Skulptur zu nahe kommen.
    »Unheimlich, nicht war?« Hannah verschränkte ihre Arme. »Das ist die Quelle. Der Ursprung. Das älteste und, wie ich finde, vollkommenste Kunstobjekt in der gesamten Sahara. All die Epochen, durch die wir gekommen sind, waren Rückschritte, verglichen mit dieser Arbeit. Es hat fast den Anschein, als hätten die Künstler ihre alte Kunstfertigkeit wieder verlernt. Doch diese Plastik steckt voller Kraft, voller Leben. Obwohl ihre Oberfläche von der Erosion angegriffen wurde, besitzt sie immer noch genug Energie, um mir schlaflose Nächte zu bereiten.«
    Irene nickte. »Kann ich gut nachvollziehen. Mir wird kalt, wenn ich die Skulptur länger betrachte. Sie wirkt so lebendig. Hast du eine Vorstellung, was sie darstellt?«
    Hannah schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Ahnung. Vielleicht wirklich einen Gott. Ich weiß nur, dass sie von den frühen Menschen als etwas Besonderes verehrt wurde. Die Form dieses Wesens klingt wie ein Echo durch alle nachfolgenden Kulturen. Die Jäger haben es abgebildet, die Rundköpfe, wir finden diese Form in der Rinder-, Pferde- und Kamelperiode. Die Abbildungen lassen sich bis in die Antike verfolgen, daher habe ich mir erlaubt, sie Medusa zu taufen.«
    Patrick Flannery ließ seinen Finger über den Steinsockel gleiten. »Bemerkenswert. Ich habe mal an einer Dokumentarreihe über Ägypten mitgewirkt. In Theben habe ich eine solche Figur schon einmal gesehen. An irgendeinem Obelisken, glaube ich.«
    »So weit braucht man gar nicht zu gehen«, warf Chris ein. »Sagt jemandem von euch der Name Leptis Magna etwas? Eine römische Hafenstadt, östlich von Tripolis und ungefähr siebenhundert Kilometer von hier entfernt. Gegründet wurde sie so um Tausend vor Christus von den Phöniziern. Zu ihrer Blütezeit war sie eine der reichsten Städte des

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