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Meer ohne Strand

Meer ohne Strand

Titel: Meer ohne Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Friedrich
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Pullover? Weg. Ein Hemd war da. Ein Slip, ein Schal, sonst gab es nichts. Nichts war da, er stieg aus, rannte schon wieder die Straße entlang, während ersprach, erklärte, Robert Brauer! Mein Name ist Robert Brauer, beeilen Sie sich, sie stirbt, sie stirbt!
    Sie lag da, wie er sie verlassen hatte. Er knöpfte sein Hemd auf. Legte sich neben sie in den Schnee, zog sie an sich. Rollte sich dann auf den Rücken, die Arme um sie, vorsichtig, vorsichtig, der Metallgeruch ihres Bluts. Der Geruch von Erbrochenem, atmete sie noch? Schwach, an seiner Schulter, er wickelte das saubere Hemd um ihren Rücken, das Hemd, das er trug, um ihre Seiten. Schlang seine Arme um sie, die auf seinem Bauch lag: dem weichen, zu wohlgenährten Bauch eines Mannes Mitte Vierzig, ihm wurde klar, daß er redete. Daß er mit ihr sprach, auf deutsch, Hab keine Angst, wir schaffen es. Wir schaffen es, sie müssen gleich da sein, du schaffst es. Du stirbst mir nicht weg hier, waren das seine Zähne, die aufeinanderschlugen? Er hatte nicht gewußt, daß man so frieren konnte. Daß die Kälte ein Schmerz sein konnte, der auf seinem Weg in die Knochen hinein das Fleisch betäubte. Weinte er, während er sprach? Möglich. Sie war eine Fremde. Die ihn nichts anging, ihr Tod würde kein Loch hinterlassen in seinem Leben, was tat er hier? Warum stand er nicht auf und wartete im Wagen auf die Helfer, die sicher gleich kommen würden, irgendwo im Wald knackten Zweige, vielleicht unter der Last des Schnees. Vielleicht war dort ein wildes Tier, er hätte seine steifgefrorenen Hände nicht einmal mehr von ihr lösen können, wenn er es gewollt hätte. Wir schaffen es! Du hältst durch mit mir, halte durch mit mir, seine Hände, seine Arme waren völlig gefühllos. Wurde ihr Atem schwächer? Blut floß aus ihren Haaren über seinen Hals. Seine Körperwärme brachte ihr Blut zum Schmelzen, noch war er am Leben. Noch war er nicht erfroren, einen Momentlang dachte er an Natalie: an Natalies Gesicht, wie es vielleicht aussehen würde, wenn sie von seinem Tod erfuhr, der Wald war jetzt vollkommen still. War schwarz jenseits des Lichtkegels der Taschenlampe, die neben ihm im Schnee steckte, wie lange würde sie brennen? Schwarz und schweigend. Der Wald steht schwarz und schweigend, ein Kinderlied. Gutenachtlied, durch die Äste der Bäume war kein Mond zu sehen. Jetzt weinte er. Es begann zu schneien. Er fühlte die Flocken nicht auf seinen Fingern, Armen, sah sie aber, sah ihre Lautlosigkeit. Die Tränen, die aus seinen Augenwinkeln über die Schläfen in seine Haare hineinliefen, waren eine heiße Spur. Das Wasser in seinen Schuhen mußte gefroren sein, er fühlte die Füße nicht mehr. Er fühlte den dumpfen Schmerz, dort, wo seine Beine gewesen waren, er schloß die Augen, um die Flocken nicht mehr zu sehen, er war müde. Er war zu lange gerannt, er war kein junger Mann mehr. Kein Amerikaner, der sich jeden Tag im Fitneßcenter trimmte, jetzt fror er nicht mehr. Er erfror, das wußte er noch: Diese Müdigkeit hieß, daß er erfror, von irgendwo kamen Motorengeräusche. Lichter, Stimmen von Menschen, Where are you? Mr. Brauer, where are you? Jetzt rief er laut. Oder er glaubte zu rufen, Lichter tanzten über ihn weg. Er hörte das Krachen von Zweigen: Große Tiere brachen durchs Unterholz, Oh my god! Ein Gesicht über ihm, Oh my god, look at this! Sie lösten seine Finger. Sie hoben die Frau von ihm herunter, legten sie auf eine Trage, ein Arm schob sich unter seine Schultern, Can you get up? Can you walk? Sie zogen ihn hoch, nahmen ihn zwischen sich. Jemand legte eine Decke um ihn, Come on, you’ll make it. Du schaffst es, was ist denn um Himmels willen passiert? Er machte sich nicht die Mühezu antworten. Konnte nicht antworten, ließ sich durch den Schnee schleifen, durch das nun sehr dichte Gestöber des Schnees, der Rettungswagen stand am Rand der Straße. Stand dort, wo die Spuren jetzt rasch unter fallendem Neuschnee verschwanden, jemand griff nach seinen Beinen, hob ihn hoch wie ein Kind. Wo ist sie? Er wollte laut reden, um verstanden zu werden, er flüsterte. Sie verstanden ihn trotzdem, Wir haben sie, es ist alles okay. Don’t worry, don’t you worry now, er lag auf einer Trage. Er war sich der Anwesenheit von Menschen bewußt, die ihn berührten, Teile seines Körpers bewegten, die er nicht fühlte, er schloß die Augen. Der Wagen fuhr. Etwas sollte ihm einfallen, fiel ihm nicht ein, wenig später keuchte er vor Schmerz: Das Blut flutete in seine

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