Meer ohne Strand
konnte, er hatte das Buch nicht gelesen, das sie so erregte. Er nahm an, er machte etwas verkehrt. Wollte sich nicht schämen für sie: langweilte sie vielleicht einfach bis zur äußersten Verzweiflung, er wartete, bis ihr Schluchzenleiser wurde, regelmäßig. Dann ging er zu ihrem Sessel. Nahm sie in den Arm, zog sie auf seinen Schoß. Begann, sie zu wiegen: während er über ihren Kopf hinweg aus dem Fenster sah, jetzt an gar nichts dachte. In ihr Haar murmelte,
Ist ja gut, Liebes, ist ja alles gut,
Bis sie nicht mehr weinte. Bis sie sich erhob, um ins Bad zu gehen. Ihn noch immer schlucksend wie ein kleines Kind mit sich ins Bad zog: wo er sie lieben sollte, während sie nach vorn gebeugt über dem Waschbecken hing in ihrem verschwitzten Morgenmantel, sich kaltes Wasser ins Gesicht schöpfte. Sich dann zu schminken begann: ihren Mund, ihre Augen mit den geschwollenen Lidern, er sah sie im Spiegel. Sah ihre Augen bei jedem seiner Stöße schmal werden, sah sie Wimperntusche verschmieren, Lippenstift,
Das ist verrückt, was wir hier machen, Robert, völlig verrückt,
Sah sie auflachen. Sah sich selbst im Spiegel hinter ihr: Wie er darauf wartete, daß sie aufstöhnte,
Mach weiter, mach weiter, Robert,
Daß ihr Kopf nach hinten kippte, sie gegen ihn sank.
Zusammensank mit geschlossenen Augen, für ihn, danach lagen sie auf dem Boden im Badezimmer, umschlungen.
Die Neonröhre über dem Spiegel brannte. Die Badezimmermatte war eisblau. Auf dem Glasregal stand ihr Parfüm, sein Rasierwasser, ihr Atem beruhigte sich. Herzschlag und Puls wurden regelmäßig, man konnte jetzt aufstehen. Man konnte jetzt Kaffee kochen, eine Weinflasche öffnen, konnte beraten, ob man noch zu einem späten Essen ausgehen oder lieber mit einem Buch insBett kriechen wollte, sie war jetzt erschöpft: Alles war wieder in Ordnung. Dann war der andere aufgetaucht,
But, Robert, why do you need Natalie? Someone like Natalie,
Julia hatte ihn das gefragt, irgendwann im letzten Sommer. Er hatte die Frage nicht begriffen. Hatte Julia angestarrt, über den Pitcher voll Bier hinweg: ihr schmales amerikanisches Gesicht, die wachen Augen, den schwarzen, sehr exakten Pagenkopf, was wollte sie von ihm? Julia, die Buchhändlerin, mit dem modischen Interesse an Psychologie: Wollte sie ihn nun therapieren? Nachdem es ihm so offensichtlich nicht gelang, sie zu lieben,
What was missing in your life, Robert? Was hat dir denn damals gefehlt, als du Natalie getroffen hast?
Nichts! Was sollte ihm denn gefehlt haben? Keine Frau. Er hatte immer Frauen gehabt, war nie um Begleitung verlegen gewesen: obwohl er kein schöner Mann war, vielleicht verfügte er manchmal über einen gewissen Charme. Über Witz oder gutes Benehmen, irgend etwas, beruflich war er erfolgreich. Erfolgreich genug für die meisten Frauen, ein gefeierter Architekt?
Nun, das sicher nicht. Aber kompetent. Im Beruf zuverlässig, solide, in Maßen kreativ: ohne Prätentionen. Kein Heckmeck-Erfinder mit genialischem Anspruch: einer, der an die Nutzer seiner Bauten mehr dachte als an seinen eigenen Ruhm, er vertat seine Zeit nicht mit der Errichtung von Luftschlössern. Hatte sich längst mit der Realität arrangiert: mit Verwaltungs-, Industriebauten. Behördlichen Bestimmungen, Wirtschaftlichkeitserwägungen der Bauherren, er wußte, ihn würde man nicht dazu auffordern, den Potsdamer Platz neu zu bebauen. Er hatte versucht, Julia das zu erklären: Er hatte nie zuden Männern gehört, die sich einbildeten, sie müßten unbedingt ihre Traumfrau finden, um mit dem Leben zufrieden zu sein. War immerhin schon über vierzig damals, als Natalie kam, seit fast zehn Jahren geschieden,
I was carefree, Julia! Absolutely carefree,
Sie hatte gelacht,
Vielleicht war es das. Maybe you needed to care for someone,
Psychogewäsch! Er war verärgert gewesen. War doppelt verärgert darüber, daß er sich ihre Worte übersetzen mußte, um den Bezug zu verstehen -
Carefree: sorglos
To care for someone: 1) sich um jemanden kümmern. 2) jemandem Bedeutung beimessen
–, daß sie seine sprachliche Unterlegenheit ausgenutzt hatte, um zu brillieren mit ihrer amerikanischen Küchenpsychologie, in Gabriel Phillips’ Haus auf Cape Cod trat Robert ans Fenster.
An die riesige, jetzt nachtschwarze Glasfront, mit der er Gabriel Phillips’ Wohnzimmer vom unteren Deck getrennt hatte, Lichtschlieren trieben draußen auf der dunklen Bucht. Der Sandstrand sah eisig aus: leer und tot wie ein Mond, Gabriel Phillips’
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