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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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hatte sie nicht belogen. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn er es getan hätte. Weil sie nun nicht einmal mehr Zuflucht im Zorn suchen konnte. Sie konnte es ihm nicht verdenken, dass er sie getäuscht hatte.
    Sie hatte sich selbst getäuscht.
    Mit zitternder Hand legte sie den Bratenheber auf den Tisch zurück. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, bevor sie ihm wieder gegenübertrat.
     
    »Wohin gehen Sie?« Iestyns junge Stimme erreichte Lucy am Hintereingang.
    Lucy ließ sehnsüchtig den Blick über die Schlossmauern hinausschweifen, dorthin, wo sich der grüne Hang im Obstgarten verlor, bevor er in steinerne Gipfel und Kämme auslief. Felsen erhoben sich aus dem Gras wie Wale aus dem Ozean. Die Grate flirrten in der Nachmittagssonne. Sie wollte dort draußen sein. Sie wollte von hier weg, weg von den Türmen und Erwartungen, die auf ihr lasteten und ihr das Atmen schwermachten.
    Sie drehte sich um und bedachte Iestyn mit einem strengen Lehrerinnenblick. »Spazieren.«
    Er zog die Augenbrauen zusammen. »Ich dachte, Sie holen sich das Mittagessen.«
    Sie schluckte an dem Schmerz in ihrem Hals vorbei. »Ich habe keinen Hunger mehr.« Das wenigstens stimmte.
    Der Blick des Jungen huschte über sie und heftete sich auf Madadh, der mit hängender Zunge an ihrer Seite lief. »Ich komme mit.«
    »Nein«, erwiderte sie scharf. Zu scharf. Etwas rührte sich wild in ihr. Sie sehnte es verzweifelt herbei, von hier zu entkommen. Ihrem Schmerz zu entkommen. »Mir wird nichts passieren. Madadh ist bei mir.«
    Iestyns Gesicht verhärtete sich zu einem eigentümlich erwachsenen Ausdruck. Und dann fiel es ihr wieder ein. Er sah nur wie ein Teenager aus. »Der Hund hat Sie vor Gaus Angriff nicht beschützen können.«
    Nein, sie hatte sich selbst beschützt.
    »Mir wird nichts passieren«, wiederholte Lucy. Das war das Familienmotto der Hunters, dessen sie sich bedienten, um Geheimnisse zu bewahren und Sorgen abzuwehren. Sie runzelte die Stirn, und Neugier gewann vorübergehend die Oberhand über ihren dringenden Wunsch, allein zu sein. »Wie viel hast du von der Mauer aus gesehen?«
    »Genug, um zu wissen, dass Sie nicht allein außerhalb der Mauern unterwegs sein sollten.«
    Seine Besorgnis war aufrichtig und berührend. »Conn meinte, ich sei hier sicher.«
    »Sie könnten sich trotzdem verirren oder einen Knöchel verstauchen. Und dann würde ich Schwierigkeiten bekommen. Ich kann Sie nicht gehen lassen.«
    Sie reckte das Kinn. »Du kannst mich nicht aufhalten.«
    Iestyn grinste sie an. Es war das Grinsen eines Jungen, spöttisch, frech. »Wollen Sie es ausprobieren?«
    Äh, nein. Trotz seines drahtigen Körperbaus war er so groß wie sie und so muskulös wie ein Highschool-Leichtathlet.
    »Wie alt bist du?«, fragte sie.
    Wieder ein Grinsen. »Ich verrate es Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen.«
    Sie blinzelte. War er … Versuchte er tatsächlich, mit ihr zu flirten? Das wäre eine Komplikation, die keiner von ihnen gebrauchen konnte.
    Aber sein freundliches Lächeln war Balsam für ihr angeschlagenes Ego.
    »Schon in Ordnung. So sehr interessiert es mich nun auch wieder nicht«, entgegnete sie und setzte ihren Weg den Hügel hinunter fort.
    Madadh lief voraus, wobei sein langer Schwanz leicht hin und her schwang wie der Wimpel eines Fahrrads. Der Wind zupfte an Lucys Haar und fuhr in das hohe Unkraut im Obstgarten. Der schwere, süße Duft von Äpfeln wurde mit der Brise herangetragen.
    Iestyn schloss zu ihr auf. »Ich war zwölf, als mich der Prinz nach Sanctuary gebracht hat.«
    Ihre Aufmerksamkeit war geweckt. »Conn hat dich hierhergebracht?«
    Iestyn nickte. »Er hat meinem Vater Gold gezahlt.«
    »Und was hat deine Mutter dazu gesagt?«
    »Ich weiß es nicht. Meine Mutter ist eine Selkie.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Wie Ihre Mutter.«
    »Aber … hast du sie nicht gesehen, als du hier warst?«
    »Nein. Sie wollte mich nicht sehen«, erklärte er schlicht. »Ich wurde in Menschengestalt empfangen, deshalb konnte sie die ganze Schwangerschaft über nicht ins Meer zurückkehren. Sie hat mich meinem Vater anvertraut, sobald eine Amme gefunden war. Ich habe keine Erinnerung an sie, und ich bezweifle, dass sie eine an mich hat.«
    Wie Conn, dachte Lucy, und es gab ihr einen Stich. Armer Junge. Arme, aufgegebene Jungen. »Es muss hart für dich gewesen sein, deinen Dad zu verlassen.«
    Iestyn zuckte die Achseln. »Er hat es bedauert, mich gerade zu verlieren, als ich alt genug wurde, um ihm auf der Farm zu

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