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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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helfen. Aber mein Lord hat ihm genug Gold gegeben, damit er viele Leute anheuern konnte.«
    Sie durchpflügten das hohe Gras im Obstgarten, aus dem wilde Erdbeeren hervorblitzten und kleine blaue und weiße Blumen wie Edelsteine leuchteten. Noch immer hingen Äpfel an den unteren Ästen, dunkel wie Granaten, goldfarben wie kleine Monde, und unter jedem Baum lag wie eine Halskette ein Kreis aus Fallobst.
    »Ich meine: Es muss emotional hart für dich gewesen sein«, erläuterte Lucy.
    »Ich konnte doch nicht bleiben«, sagte Iestyn.
    »Warum nicht?«
    »Meine Verwandlung stand bevor.« Er hob den Kopf, um dem Hund nachzusehen, der unter den Bäumen hervortrat und auf der gegenüberliegenden Seite wieder den Hang hinauflief. »Das erste Mal ist schlimm, auch wenn man vorbereitet ist. Man muss sein eigenes Fell aus dem Inneren gebären. Es sind Schmerzen. Als würden einem die Eingeweide herausgerissen.«
    »Aber du musst dich doch nicht verwandeln«, entschlüpfte es Lucy, bevor sie es verhindern konnte.
    Es schnürte ihr die Lunge in der Brust zusammen. Ihr Herz hämmerte. Einen Augenblick lang war sie wieder eine vierzehnjährige Ausreißerin, die sich auf der schmutzigen Toilette einer heruntergekommenen Tankstelle außerhalb von Richmond die Seele aus dem Leib kotzte und auf dem kalten, gekachelten Boden fast umkam.
    Iestyn wandte sich ihr zu und betrachtete sie aus schmalen, goldfarbenen Augen. »Natürlich muss man. Alle Selkies verwandeln sich. Wir können gar nicht anders. Es ist unsere Natur.«
    Lucy zwang sich zu atmen. Alle Selkies verwandeln sich.
    Sie war keine Selkie.
    Sie erklommen den Hügel hinter Madadh, der nun durch und über die Felsen kletterte. Der Anstieg zerrte an Lucys überstrapazierten Oberschenkelmuskeln und linderte die Anspannung in den Muskeln auf der Schenkelrückseite. Die Sonne floss wie Honig herab und gab den Schatten Kontur. Mit dem Wind wehte ein flüchtiger Hauch vom Rauch der morgendlichen Feuer heran.
    »Man braucht also jemanden an seiner Seite?«, fragte sie.
    Iestyn nickte. »Es hilft bei der Verwandlung. Und danach. Der Sog der See ist stark und schwer zu brechen. Beim ersten Mal draußen braucht man einen Führer, damit man den Weg zurück findet.«
    »Und ohne Führer?«
    Er zuckte wieder die Achseln. »Man bleibt unter den Wellen. Vielleicht für immer. Es sei denn, es fällt einem ein, wieder an Land zu gehen.«
    »Um zu essen?«
    »Äh.« Iestyns Gesicht wurde rot. »Meistens, um Sex zu haben.«
    »Oh.« Sie schluckte. Natürlich. Ihre eigene Mutter … Und Maggie …
    Ein langes, tiefes Heulen hallte von den Felsen vor ihnen wider, und dann noch eines und noch eines in einem gespenstischen Chor, der ihr die Wirbelsäule hinaufkroch.
    Madadh kauerte sich hin, legte die Ohren an und stellte das Fell auf den Schultern auf.
    Lucy erschauerte. »Was war das?«
    »Wölfe.«
    Sie blieb wie angewurzelt stehen.
»Wölfe?«
    Iestyn grinste sie wieder an; seine Verlegenheit schien vollkommen vergessen. »Sie sind harmlos.«
    »Harmlos«, wiederholte sie ungläubig.
    »Aye. Außer, Sie sind ein dummes Schaf.«
    Er neckte sie ganz offensichtlich. Es war ihr gleichgültig. Sie sah zu Madadh, der wie ein Pfeil auf einer Bogensehne bebte, und dann auf den Pfad vor ihnen, der sich durch die Felsen schlängelte. »Dann bin ich ein Schaf«, sagte sie. »Wir gehen zurück.«
    »Mäh«
, machte Iestyn.
    Sie streckte ihm die Zunge heraus; dann drehten sie sich um und nahmen den Abstieg in Angriff.
    Im selben Moment erstarrten sie, als ein großer grauer Wolf aus dem Schatten der Felsen glitt und sich ihnen in den Weg stellte.
    Madadh winselte.
    Iestyn wurde blass. »Mist.«
    Die Angst grub ihre Klauen in Lucys Hals. »Du hast doch gesagt, dass die Wölfe harmlos sind.«
    »Das sind sie auch.« Iestyn griff vorsichtig nach unten, ohne den Wolf aus den Augen zu lassen, und förderte aus einer Scheide an seinem Knie ein langes, schwarzes Messer zutage wie das von Conn. »Das sind keine Wölfe. Nicht mehr.«
    O Gott.
    Sie befeuchtete ihren trockenen Mund. »Was –«
    »Dämonen.«
    Panik, gleißend hell, explodierte in ihrem Kopf. Sie blinzelte, um wieder klare Sicht zu bekommen, und sah weitere Gestalten heranschleichen. Sie kreisten sie von allen Seiten ein, hielten sich aber nahe bei den Felsen. Sie ballte die leeren Hände zu Fäusten.
    »Hinter mich«, befahl Iestyn. Seine junge Stimme klang angespannt. »Laufen Sie nicht weg. Sie greifen von hinten an.«
    Stolpernd gehorchte sie seinem

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