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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss
Autoren: Virginia Kantra
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Mit einem Seufzer der Erleichterung bot sie ihren Körper, ihren Willen, ihre Kontrolle der See dar.
     

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    18
     
    Die Tür fiel hinter Lucy zu. Schweigen senkte sich über die Halle.
    Keiner von Conns Wächtern wollte seinem Blick begegnen.
    »Wollt Ihr die Verfolgung aufnehmen, Lord?«, fragte Griff endlich.
    Kopfschmerzen siedeten hinter Conns Augen. Er war sich bewusst, dass er sie gegen sich aufgebracht hatte. Verletzt und enttäuscht hatte. Aber was hätte er sonst tun oder sagen sollen? Seine Pflicht war sein Volk, wie es auch die von Lucy hätte sein sollen.
    Sie dachte nicht vernünftig. Sie begriff die größeren Zusammenhänge nicht. Sie kannte Gau nicht so, wie er ihn kannte.
    »Verfolgung wohin?«, fragte er. »Dies ist eine Insel.«
    Und Lucy konnte nicht schwimmen. Er würde ihr Zeit geben, sich abzuregen, bevor er sie suchen ging, bevor er sie fand und ihr erklären konnte … Was? Dass sie ihre Familie ihrer Bestimmung opfern musste?
    Griff runzelte die Stirn. »Trotzdem …«
    »Ach, lasst dem Mädchen seinen Abgang«, sagte Morgan. »Das hat sie verdient.«
    »Sie hat viel mehr verdient«, erwiderte Conn barsch. »Unter anderem das Recht, allein zu sein.«
     
    Allein.
    In der klaren, kalten Dunkelheit stürmten Geräusche auf sie ein. Alles Denken verblasste und trat zurück. Ihre Nasenlöcher waren verschlossen, ihre Augen weit offen, und ihr Körper schwamm geschmeidig, geformt wie ein Fass in der Dünung. Der Rhythmus der Wogen war der Rhythmus ihres Pulses. Das salzige, schlagende Herz der See pochte in ihrer Brust.
    Sie bewegte sich mit der Strömung und ihrem Instinkt. Luftblasen schmückten das Wasser wie Sterne. Geblendet von den Sternbildern, die ihr Atem erfand, tauchte sie in Staunen und Empfindung ein und schraubte sich durch schaukelnde Kelpwälder und über Kämme mit Meeresblumen. Jedes Zucken, jede Vibration, die davonhuschenden Fische, das schwankende Seegras, der schwerfällige Gesang der Wale wurde von ihren Tasthaaren aufgefangen. Die Beschaffenheit des Wassers nahm sie mit ihrem Fell wahr.
    Sie kehrte an die Wasseroberfläche zurück, und die Welt stürzte auf sie ein, in Explosionen aus Licht und Luft vor einem flüssigen Horizont, brutal und übermächtig.
    Einatmend tauchte sie wieder hinab.
    Ihr Kummer war ein Gewicht in ihrer Brust, ihre Angst und ihr Ziel pressten gegen die Schädelbasis.
    Doch unter den Wellen war alles heiter und klar. Mit einem Wink ihrer Flossen drehte sie sich und schoss empor, durchbrach die Ebene ihrer früheren Existenz wie ein Vogel. Sie hatte die Fesseln des Landes, die Last der Verantwortung abgestreift. Im Ozean war sie voller Anmut, schwerelos und allein.
    Sie war frei.
     
    Lucy war nicht in ihrem gemeinsamen Zimmer.
    Conn stand in der Tür und bemerkte eine ungewohnte Leere in seiner Brust.
    Selkies waren Einzelgänger. Er hatte schon immer seine eigenen Gedanken, seine eigene Gesellschaft, seinen eigenen Freiraum zu schätzen gewusst.
    Und doch hatte er sich nach Jahrhunderten in der herrlichen Einsamkeit seines Turms irgendwie daran gewöhnt, beim Abendessen am Ende des Tages Lucys Gesicht zu sehen, hatte ihre ruhige Rede und ihre unerwartete Leidenschaft und das Schimmern ihrer Augen am Feuer und im Kerzenschein schätzen gelernt.
    Der Kamin war erloschen. Lucy war fort.
    Conn legte die Stirn in Falten. Wann hatte er angefangen, sich darauf zu verlassen, dass sie da war, sich ihre Gesellschaft zu wünschen?
    Wann hatte er angefangen, wie Madadh die Ohren zu spitzen, ob er ihre Stimme oder ihre Schritte hörte?
    Madadh,
dachte er. Der Schraubstock um seine Brust lockerte sich. Lucy musste mit dem Hund den Abendspaziergang am Strand angetreten haben.
    Beruhigt ging er hinüber zum Fenster und öffnete es schwungvoll. Das Licht zog sich bereits von Himmel und Meer zurück und hinterließ einen purpurnen Schimmer wie in einer Austernschale, und Sanctuary war die runde Perle im Herzen der Welt.
    Er suchte die schaumige Linie ab, dort, wo das Wasser an den Strand rauschte und wieder zurücklief.
    Er sah das Beiboot, das auf die Felsen gezogen war, und eine uneingestandene Anspannung wich von seinen Schultern.
    Er sah den langen, schlanken Schatten des Hundes.
    Und dort, dunkel im ersterbenden Licht, sah er das Rot von Lucys Mantel im Sand liegen.
    Conns Herz hämmerte. Seine Augen strengten sich an, besser zu sehen, während sein Verstand sich darum mühte, zu arbeiten. Lucy schlief, Lucy war verletzt, Lucy war …
    Fort.
    Sein Herz
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