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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss
Autoren: Virginia Kantra
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Familie bekommt erst gar nicht die Chance, alt zu werden. Sie werden einfach sterben. Gau wird sie umbringen. Es sei denn, du schickst Hilfe.«
    »Wir können hier niemanden entbehren.«
    »Dann muss ich eben selbst gehen.«
    »Dich können wir am wenigsten entbehren. Wir brauchen dich hier. Ich brauche dich hier.« Conn senkte die Stimme. Wie sehr musste ihm diese Demonstration von Gefühlen vor seinen Wächtern zuwider sein. »Ich kann das nicht ohne dich.«
    Seine Augen – von warmem Silber – drangen bis auf den tiefsten Grund ihres Herzens. Ihre Hände zitterten in den seinen.
    Aber ihre Stimme war vollkommen ruhig, als sie sagte: »Es tut mir leid. Ich liebe dich. Aber meine Familie braucht mich mehr.«
    Sie entzog ihre Hände seinem Griff und ging aus der Halle.
    Niemand bewegte sich oder sprach oder versuchte, sie aufzuhalten. Sie lief rasch, damit ihr niemand in den Weg treten konnte. Sie sah nicht zurück. Das konnte sie sich nicht leisten.
    Über den Burghof und in den Turm, dann die Treppe hinab und durch Conns geheimen Einlass. Madadh jaulte auf und trottete hinter ihr her.
    Auf dem Pfad zum Strand drehte sie sich um. »Geh!«, rief sie. »Geh heim. Zurück zu ihm!«
    Der Hund drängte sich an sie und steckte seine bärtige Schnauze in ihre Hand. Ihre Augen brannten, in ihrer Brust tobte ein Feuer.
    Sie stolperte den Pfad hinunter.
    Sie hatte nie wie die Mutter sein wollen, die sie aufgegeben hatte. Aber sie konnte sie selbst sein. Sie durfte nicht an diejenigen denken, die sie zurückließ, sondern sie musste an diejenigen denken, die zu retten sie auszog.
    Lucy schluckte hart. Vielleicht hatte ihre Mutter ja dasselbe getan.
    Auf dem Strand legte sie die geliehenen Kleider ab und faltete sie zu einem Stapel zusammen.
    »Etwas hält dich zurück«,
hatte Conn gesagt.
    Ja. Schmerz.
    Angst.
    Liebe.
    Nackt stand sie am Rande des Wassers.
    Oder fast nackt. Der Aquamarin glitzerte an ihrem Bauch. Conns Worte tauchten quälend aus ihrer Erinnerung auf:
»Selkies verändern oder schmücken ihre Haut nicht.«
War sie eine Selkie? Sie erinnerte sich an den reißenden Schmerz in ihrer Mitte, als sie sich mit Conn ins Wasser gewagt hatte. Vielleicht …
    Mit zitternden Händen entfernte sie das Piercing und legte es zuoberst auf den Stapel abgelegter Kleider. Der kleine Edelstein schimmerte auf dem groben Leinen wie eine Träne. Ein Versprechen. Ein Lebewohl.
    Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, als sie sich dem Wasser zuwandte. Conn hatte sie davor gewarnt, allein ins Meer zu gehen. Und was hatte Iestyn gesagt? Ohne Führer konnte sich ein Selkie, der sich zum ersten Mal verwandelte, für immer unter den Wellen verirren.
    Doch sie war mit dem Land auf eine Art und Weise verbunden, wie kein Selkie jemals mit ihm verbunden gewesen war, und Pflichtgefühl und Liebe waren ihre Ankerleinen.
    Sie holte tief Luft und watete nackt ins Wasser.
    Das Wasser umspülte ihre Knöchel. Kälte und Furcht schüttelten sie. Sie wollte das nicht tun. Sie hatte keine Wahl. Sich das einzugestehen verschaffte ihr so etwas wie Erleichterung. Keine Wahl. Keine Kontrolle.
    Sie zwang sich, weiterzugehen.
    Druck baute sich unter ihrer Haut auf, unter ihren Rippen, tief in ihrem Bauch. Er schwoll in langsamen Brechern an, während er durch ihre Sehnen, Knochen und Nerven rollte.
    Sie erkannte die Vorboten des Schmerzes, den Beginn der Verwandlung. Früher hatte sie sich immer dagegen gesträubt. Nun hieß sie den Schmerz willkommen, begab sich ganz hinein, mit tränenüberströmtem Gesicht und ausgestreckten Armen.
    Sie brauchte den Schmerz, damit er sie dorthin brachte, wohin sie gehen musste.
    Sie sah nur noch verschwommen. Ihr Gehör schärfte sich. Gerüche – ein Potpourri aus Kelp und Salzwasser – hüllten sie ein. Die Strömung zerrte an ihren Knien. Sie schwankte, doch das Wasser trug sie, umfing sie in der Umarmung des Liebenden. Schmerz riss an ihrem Bauch. Verwirrung spülte durch ihr Hirn, während die Welt sich auflöste und um sie her wirbelte. Ihre Gliedmaßen verkürzten sich und schmolzen zusammen. Ihr Körper wurde plump. Panik schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht … Sie musste. Sie kämpfte sich weiter, wälzte sich in der Brandung, unbeholfen und kraftvoll. Ihre Haut zuckte, ihr Fell kräuselte sich unter der Liebkosung des Wassers.
    Wir treiben dahin, wie die See dahintreibt …
    Das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Ihr Herz machte einen Satz und schwoll an.
    Ja.
    Die Wellen flüsterten und sangen.
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