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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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und schwer über den Tasten.
    Ich raffe mich zu einem echten Opfer auf. »Oder sollen wir vierhändig spielen?« Daran hatte mein Vater früher immer Spaß. Es sind einfache Stücke, die Oma mir beigebracht hat. Bestimmt mache ich in jedem Takt mehr Fehler, als Noten drin sind, aber möglicherweise findet er ja gerade das lustig.
    Anstatt zu strahlen und mich neben sich auf die Klavierbank zu ziehen und den Arm um mich zu legen, schaut mich mein Vater an, als hätte er noch nie etwas von vierhändigen Klavierstücken gehört.
    »Willst du denn?«, fragt er schließlich.
    Ich nicke tapfer.
    Er seufzt. »Dann bring die Noten.«
    Verflixt. Mir fällt ein, dass ich die Noten Oma zurückgegeben habe. »Äh, ich hab sie nicht mehr.«
    Mein Vater guckt mit einem gequälten Ausdruck durch mich hindurch. Nicht wegen der Noten. Die hat er längst vergessen.
    Ich schleiche geknickt davon. In meinem Zimmer läuft noch der Fernseher. Ich zappe ein bisschen herum. Da höre ich plötzlich von drüben Töne, die mir durch Mark und Bein gehen, schwere, tödliche Akkorde: der Trauermarsch von Chopin! Ich stürze ins Wohnzimmer.
    »Was ist passiert? Ist was mit Mama?«, schreie ich aufgelöst.
    Mein Vater spielt den ganzen verdammten Trauermarsch zu Ende (und der dauert länger als eine Beerdigung), bevor er murmelt: »Wer weiß. Würden wir’s denn überhaupt erfahren?«
    Ich setze mich neben ihn auf die Klavierbank und rücke ihm so lange auf den Pelz, bis er endlich auftaut und mich in den Arm nimmt. Er nuschelt mir in die Haare: »Ach, Lenchen. Ich vermisse sie so.«
    »Aber du hast doch noch mich«, nuschle ich zurück. Eine Weile sagt er nichts. Und dann: »Ja, ich habe dich. Was für ein Glück.« Er gibt mir einen Klaps. »Was hältst du davon, wenn wir uns eine schöne Pizza in den Herd schieben?« Er schaut mir erwartungsvoll ins Gesicht, als wäre ich die Deprimierte.
    »Hm«, mache ich. »Hast du vergessen, dass wir schon Spaghetti Bolognese zum Abendessen hatten?«
    »Ja, und?«, sagt mein Vater und steht entschlossen auf. »Jetzt hab ich eben Hunger auf Pizza. Und du auch, gib’s zu!«
    Nun ja, ich kann eigentlich immer eine Pizza verdrücken. Und die Spaghetti liegen schon länger als zwei Stunden in meinem Magen. Das, was von ihnen noch übrig ist.
    Während wir vor dem Herd auf die Pizza warten, gesteht mir mein Vater, dass er in Wirklichkeit ein Frustesser ist. Er schaut schmerzerfüllt auf sein Bäuchlein nieder. Dass er eben dauernd futtern muss, wenn meine Mutter weg ist, sogar mitten in der Nacht. Und dass er diese Woche schon fast drei Kilo zugenommen hat. So schlimm ist es für ihn, wenn meine Mutter nicht da ist!
    Ich beäuge ihn teilnahmsvoll. Könnte es vielleicht hauptsächlich daran liegen, dass sie ihm keine Telefonnummern hinterlassen hat? Ich bin ja kein kleines Kind mehr und kann mir auch was zusammenreimen.
    Auf jeden Fall weiß ich jetzt, wer das dritte arme Schwein ist.

    Weil ich die Verantwortung für einen depressiven Mann nicht weiter allein tragen will, rufe ich am Samstag frühmorgens Oma an.
    »Um Gottes willen, Madeleine«, flüstert Oma ins Telefon, »ist etwas passiert?«
    Ich beruhige sie und höre, wie sie mit einem Seufzer ins Kissen zurückfällt. Außerdem grunzt neben ihr jemand verschlafen im tiefsten Bass. Ach, ist etwa Onkel Bangemann bei ihr? Ich habe noch gar nicht mitgekriegt, dass er auch bei ihr schläft! Das ist mir nun doch peinlich. Ich meine, ich war wohl bisher zu blöde, ihre Beziehung zu begreifen. Und außerdem habe ich die beiden jetzt gestört.
    »Entschuldige, Oma«, sage ich schnell. »Ich ruf dich später wieder an.«
    »Warte, Madeleine. Du hast doch einen Grund, dass du mich so früh weckst.« Zur Seite hinüber sagt sie: »Schlaf ruhig weiter, Walter. Es ist nur Madeleine.« Und zu mir: »Was ist los, Lenchen?«
    Meine Mutter hat mich noch nie Lenchen genannt, das machen bekanntlich nur Oma und mein Vater. Auf einmal wird mir bewusst, was für ein armes, mutterloses Kind ich bin, und ich heule drauflos. Unter Schluchzen erzähle ich Oma konfuses Zeug. Von den fehlenden Telefonnummern und dass mein Vater wahrscheinlich keinen Schubert mehr mag.
    »Moment«, unterbricht mich Oma. »Was redest du da plötzlich von Schubert? Und wieso soll Robert ihn nicht mehr mögen? Bleib doch bei der Sache! Also, ihr wisst nicht, wo die Konzerte stattfinden? Warum ruft ihr nicht einfach die Agentur an? Die hat doch...«
    Ich lasse Oma reden. Ich bin ja bei der Sache

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