Meerhexe
geblieben, das weiß ich jetzt auf einmal glasklar: Ken singt Schubert. Ken ist mit meiner Mutter auf Reisen. Meine Mutter verheimlicht meinem Vater ihre Aufenthaltsorte. Mein Vater spielt den Trauermarsch und isst sich einen Frustbauch an. Das Agenturfoto von Ken, das bis Mittwoch noch im Wohnzimmer lag, hat er verschwinden lassen.
Ja, war ich denn mit Blindheit geschlagen? Habe ich denn nicht gesehen, wie meine Mutter und Ken sich beim Musizieren zulächeln? Habe ich wirklich gedacht, das müssen sie tun, das gehört zum Auftritt?
Ja, das habe ich. Und mein Vater wahrscheinlich genauso. Wir saßen noch am letzten Abend vor der Konzertreise als Publikum im Wohnzimmer, haben uns alles angehört und hinterher kräftig geklatscht.
Bei meinem Vater muss irgendwann in dieser Woche der Groschen gefallen sein und bei mir ist es jetzt passiert - vorher hat er geklemmt. Nur Oma stellt sich noch an. Sie war doch auch dabei am letzten Abend!
Ich unterbreche ihre Erklärungen von der Agentur (dass die alle Unterlagen hat und wie man sie erreichen kann und so weiter). »Oma«, platze ich heraus, »ich glaube, Ken und Mama sind ineinander verliebt!«
Atemlos lausche ich, ob Oma in Ohnmacht fällt und Onkel Bangemann sie wiederbelebt. Aber alles, was ich höre, ist Omas leises Lachen.
»Hast du das nicht gewusst, Madeleine? Natürlich sind sie ein bisschen ineinander verliebt! Sonst könnten sie nicht so zusammen musizieren, nicht so wunderbar, dass man am liebsten weinen möchte. Verstehst du? Es gibt viele Arten von Liebe. Das ist eine davon. Eine andere ist die Liebe deiner Mutter zu deinem Vater. Oder zweifelst du etwa daran?«
»Also, ich...«
»Natürlich leidet Robert, weil sie nicht da ist, das ist doch klar. Und den Zeitplan samt Adressen und Telefonnummern hat Alicia einfach vergessen, weil sie über ihrer Musik alles vergisst. Das sagst du doch selbst oft genug! Beruhigt, Lenchen? Sieh bloß keine Gespenster!«
»Gespenster?«
»Ich meine, du sollst dir nichts einbilden und dir nichts zusammenfantasieren. Für das Thema Liebe bist du einfach noch zu jung. Wie willst du jetzt schon etwas darüber wissen?«
Denkt Oma. Ich bin überhaupt nicht zu jung für das Thema Liebe! Oder was ist das denn, was ich fühle? Für Ulrich, für Torsten, für Ken … Nein, für den nicht mehr. Ken, den streiche ich.
Oma verspricht mir, dass sie sich heute um Robert kümmert. Sie will einkaufen und dann mit ihm zusammen kochen und auch Onkel Bangemann zum Essen einladen, damit Robert eine Ablenkung hat. Ob ich das für eine gute Idee halte?
»Das ist eine sehr gute Idee, Oma«, sage ich erleichtert. Jetzt bin ich die Verantwortung für meinen Vater los und kann zu Britta gehen. Ich bitte Oma noch, sich eventuell auch für den Sonntag was einfallen zu lassen, da sei Papa bestimmt besonders depressiv. (Britta und ich wollen am Sonntag zu Franziska, wo ich endlich Torsten wiedersehen werde.)
Oma lacht. »Gut, dass du so früh angerufen hast! Nun kann ich planen. Werde als Erstes Onkel Bangemann hier aus dem Bett werfen. Nach dem Frühstück kreuze ich dann mal bei euch auf. Damit ich’s nicht vergesse: Die zwei Hemden bringe ich dir gleich mit, sie sind fertig. Ich hoffe nur, Robert braucht sie wirklich nicht mehr …«
»Ich schwöre, Oma. Was denkst du denn? Dass ich sie ihm geklaut habe? Nein, er hat sie mir echt und aus freiem Willen geschenkt.«
Ich habe die Hemden genau während Torstens Klavierstunde zu Oma gebracht. Dachte ich zumindest. Aber einer ihrer Schüler war ausgefallen und sie hatte Torsten früher herbestellt. So ist das mit Oma. Auf ihren Stundenplan ist irgendwie nie Verlass.
Aber ich sehe Torsten ja am Sonntag. Wer ständig entweder am Klavier oder am Computer sitzt, kann nicht gut woanders sein als zu Hause.
Von einem denkwürdigen Besuch bei Britta und einem aufschlussreichen bei Franziska
Ich darf Britta zum Mittagessen einladen, weil Oma und mein Vater sich beim Kochen selbst übertroffen haben, vor allem mengenmäßig. Brittas Eltern sind übers Wochenende weggefahren. Das erzählt sie meinem Vater, als sie kommt und sich für die Einladung bedankt. Schadenfroh fügt sie hinzu, dass Lukas jetzt selbst was für sich machen muss, weil sie nicht da ist. (Lukas ist ihr Zwillingsbruder und ein ekelhafter Kotzbrocken. Wenn seine Freunde als Verstärkung bei ihm sind, führt er sich übel auf und ist richtig gemein zu Britta und mir: Sie nennt er Busenschnecke und mich Bombe!)
»Ruf doch deinen Bruder
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