Meerhexe
lacht Britta. »Aber mich geht das nichts an. Wenn keiner da ist, spinnt der eben. Die Leute unter uns sind auch gerade im Urlaub.«
Wir geben uns keine Mühe, die Wohnungstür leise aufzuschließen. Wir müssen sowieso damit rechnen, von Lukas dem Raver sofort in Grund und Boden gestampft zu werden. Seit der diesjährigen Love Parade (die er zwar nur im Fernsehen angeschaut hat) ist er laut Britta völlig weggetreten und hopst ständig herum.
Im Flur finden wir ihn nicht, aber er plärrt von irgendwo den Song mit. Britta zieht mich ins offene Wohnzimmer hinein. Kein Lukas. Nur eine Musik, die mich mit ihrer Phonzahl umhaut. Die eingebaute Stereoanlage bringt den ganzen Schrank ins Schwingen und alle Gläser beteiligen sich am Sound. Britta geht hin und dreht den Pegel ein wenig zurück. Dann winkt sie mich in ihr Zimmer. Hier ist es auszuhalten.
»Bestimmt badet er«, meint sie.
»Badet?«
»Ja. Er liegt wahrscheinlich in der Wanne, hat alle Türen offen und grölt sich die Stimmbänder kaputt. Das macht er immer, wenn keiner da ist. Die ist süß, die Hose.« Britta zeigt auf meine Beine. »Hast du die schon lange?«
»Sie gehört meiner Mutter. Hoffentlich schnurrt sie wieder zusammen, wenn ich sie getragen habe.«
»Du bist doch doof.« Britta lacht und holt ihre Tattoos her. »Willst du jetzt?« Sie guckt mir auf den Bauch.
»Nie im Leben!«
»Wieso nicht? Dann vielleicht auf den Arm?«
Ich lasse mir von Britta auf jeden Unterarm ein Tattoo machen. Sie gelingen gut und gefallen mir auch. Dann zieht mir Britta ein Tattooband über den Kopf und ich wehre mich nicht. Sie zupft es an meinem Hals zurecht, tritt einen Schritt zurück und betrachtet mich kritisch.
»Madeleine, das steht dir.«
Ich sehe, dass sie es ehrlich meint. Daraufhin prüfe ich mich in ihrem Handspiegel. Das schwarze Band liegt zart an meinem Hals und schnürt mich nicht ein. Meine Haare kommen mir blonder vor als sonst und meine Augen glitzern grün. Wie eine Wurst wirke ich eigentlich nicht. Aber das kann daran liegen, dass ich nur das Ende der Wurst sehe.
»Ich weiß nicht...«, zögere ich.
»Geh ins Bad«, sagt Britta. »Dort ist ein großer Spiegel.«
Ich drücke die Türklinke hinunter, dann fällt mir Lukas ein. »Aber das Bad ist besetzt. Von Lukas!«
»Der ist inzwischen sicher schon wieder draußen«, meint Britta unbekümmert. »Und wenn nicht, hörst du es.«
Der Lärm erschlägt mich. Das Bad ist am anderen Ende der Wohnung und der Flur macht davor einen Knick. Ich gehe eben auf den Knick zu, als sich die singende Stimme von Lukas schlagartig nähert.
Erschrocken renne ich zurück, stolpere über irgendwelche Schuhe und drücke mich in die überquellende Garderobe. Im Flur ist es dämmerig, nur vom offenen Wohnzimmer her kommt Licht. Lukas singt und hopst jetzt vor dieser Tür herum, dann ins Wohnzimmer hinein und wieder heraus, stampft mit den nackten Füßen, stößt einen Arm rhythmisch zur Decke, danach den anderen, wirbelt zwanzigmal im Kreis herum, schreit: »Ja, ja, yeah!« und schleudert den Kopf hin und her, dass seine nassen Haare Tropfen sprühen.
Alles an Lukas zuckt und wackelt, auch sein ziemlich langer Pimmel. Lukas ist nämlich vollständig nackt.
Ich bin vor Schreck gelähmt. Mein Glück wahrscheinlich. Denn eine Bewegung würde mich verraten. Wie ich auch das noch verkraften sollte …
Als Lukas endlich, endlich aus meinem Blickfeld hopst, um an der Stereoanlage die CD auszuwechseln, gehe ich schnell und geräuschlos zu Britta zurück. Sie sieht mich fragend an.
»Ich glaube, Lukas ist noch im Bad«, lüge ich. Ich kann es ihr unmöglich erzählen, ich muss es selbst erst mal verdauen.
»Quatsch. Er ist im Wohnzimmer, die Musik hat aufgehört.« Britta geht zur Tür. Da brüllen die Lautsprecher schon wieder los. »Nein, doch nicht«, sagt sie. »Warte!«
Ich strecke den Arm aus, um sie zurückzuhalten. Aber dann denke ich, dass die beiden ja Geschwister sind.
Britta wird Lukas nicht zum ersten Mal nackt sehen.
Etwa zwei Sekunden später höre ich einen lauten Aufschrei - Britta! Und einen grässlichen Fluch - Lukas!
Normalerweise würde ich hinausstürzen, um jemanden zu retten oder so. Aber da ich ja weiß, was los ist, lasse ich es lieber bleiben.
Alles in allem ist dieses Erlebnis für mich gut ausgegangen. Ganz abgesehen davon, dass ich jetzt genau weiß, wie ein Junge in unserem Alter an einer bestimmten Stelle seines Körpers beschaffen ist.
Also, jeden Tag muss ich das nicht
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