Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
Vom Netzwerk:
ein Schlüsselerlebnis verschafft und dafür bin ich ihr unendlich dankbar.
    Ein Schlüsselerlebnis, sagt meine Mutter, ist eines, das einem eine Tür aufsperrt, von der man gar nichts gewusst hat. Sie hat mich also perfekt verstanden!
    Auch Britta leidet übrigens an Zeitmangel und Telefonitis. Sie hat zwar keine Musical-Proben, aber dafür ihre Brieffreundschaft. Und die ist stressig. Rinus schreibt ganze Romane in seiner schaurigen Schrift und verlangt dasselbe von ihr (die Schrift nicht). Britta liest mir einzelne Abschnitte am Telefon vor. Wir brüten gemeinsam über den Sätzen. Rinus kann schon viel mehr Englisch, das ist ihr Pech. Wenn sie mich braucht, läutet sie mich zweimal an, dann rufe ich zurück. Meine Mutter lässt mich zum Glück ungestört telefonieren, was Britta von ihrer Mutter nicht behaupten kann. Ihre ist keine viel beschäftigte Konzertpianistin und kriegt deswegen immer mit, wenn Britta telefoniert. Sie regt sich darüber auf, sagt Britta, als wäre die Telefonrechnung der größte Posten in ihrem Haushalt.
    Meine Mutter ist wieder voll auf ihre schwarzen und weißen Tasten abgefahren. Sie plant ein paar Soloabende im Dezember mit Beethoven-Sonaten und freut sich darauf. Anders als nach der Frankreich-Tournee ist sie geistig anwesend, wenn sie gerade nicht übt. Und das kann nur was Gutes bedeuten. Da muss ich mir vielleicht doch keine Sorgen wegen der Frühjahrstournee machen? Wir haben ja erst mal noch den ganzen Winter vor uns.

    Meine Mutter beäugt mich, wie das zuletzt Opa getan hat. »Du brauchst einen BH, Madeleine«, sagt sie.
    Hat sie’s also auch gesehen. »Mhm«, mache ich und würde gerne so tun, als wäre ich beschäftigt, aber es liegt gerade nichts an. Den Tisch haben wir bereits abgeräumt, nichts steht mehr herum. Nur zwei Joghurtbecher. Die schnappe ich mir.
    »Wo willst du denn plötzlich hin?«, fragt meine Mutter verblüfft.
    »Die Dinger entsorgen.« Ich winke mit den Bechern.
    »Madeleine, die sammeln wir doch im Besenschrank, hast du das vergessen?« Sie macht die Schranktür auf, und da steht erst ein mickriges Stapelchen, für das kein Mensch freiwillig den Weg zum gelben Sack antreten würde.
    Ich bücke mich und stecke meine zwei Becher dazu. Als ich mich aufrichte, spüre ich meine Brüste wackeln.
    »Hast du heute Nachmittag Zeit?«, fragt Mama unbeirrt.
    Ich seufze übertrieben. »Wenn es sein muss...«
    Sie lächelt. »Es ist doch spannend, wenn sich der Körper verändert, oder nicht? Mir ist übrigens aufgefallen, dass der Pegelstand im Nutella-Glas seit einer Woche gleich geblieben ist. Bist du verliebt?«
    »Hä?«, sage ich.
    »War nur so eine Frage.« Mama lacht leise. »Du musst nicht darauf antworten. Eine grässliche Frage. Entschuldige. Soll ich dir sagen, was meine Mutter gemacht hat, als ich zum ersten Mal verliebt war?«
    »Wenn du willst.« Ich setze mich wieder an den Tisch, meine heißen Backen in die Hände gestützt.
    Mama bleibt an den Schrank gelehnt stehen. »Ein Drama hat sie daraus gemacht. Ich würde nicht mehr konzentriert üben, hat sie behauptet. Ich würde meine ganzen tollen Pläne vergessen, alles sei umsonst gewesen. Und das wegen so einem halbgaren Burschen, der noch nicht mal Noten lesen kann.« Sie seufzt in der Erinnerung.
    »Willst du deswegen nicht so gern nach Kiel? Bist du Oma noch böse?«
    »Ach...« Meine Mutter winkt ab. »Das war doch nur eine von vielen Geschichten. Sie haben mir alles madig gemacht, was nicht mit Schule oder klassischer Musik zu tun hatte. Opa auch. Er war milder, aber er konnte seine Meinung nie durchsetzen. Es waren schwierige Jahre. Ich wollte doch Pianistin werden! Oma hätte sich keine Sorgen machen müssen. Nur, jung war ich eben auch und ich hatte ganz normale Sehnsüchte!«
    Ich nicke. Mama soll ruhig weiterreden, das ist ja spannend!
    »Ohne Gefühle gibt es keine Kunst«, sagt sie leise und tief überzeugt. »Richtig gut gespielt, verstehst du, Madeleine, nicht nur technisch gut, sondern verinnerlicht, habe ich erst, als ich deinen Vater kennengelernt hatte.« Sie schaut mich an.
    Ihr Gesicht leuchtet. »Robert - das war … einfach unglaublich.« Sie schüttelt den Kopf. »Das war alles, wovon ich so lange geträumt hatte. Ja. Das Wunder war es. Und man nennt es Liebe.« Sie legt ihre Wange an den Schrank, lächelt und ist auf einmal sehr jung.
    »Und heute?«, flüstere ich nach einer Weile.
    »Heute?« Meine Mutter kehrt aus der Vergangenheit zurück. Sie streckt sich und kämmt mit

Weitere Kostenlose Bücher