Meerhexe
Sängerin.
»Nadine spielt die Braut des Prinzen«, erklärt er uns. »Für diese Rolle habe ich in den Ferien noch ein Lied komponiert, anfangs wollte ich sie nur stumm besetzen. Aber meint ihr nicht auch, dass die Braut doch ziemlich wichtig ist?«
Wir stimmen ihm alle zu, insbesondere Nadine. Sie hat rote Backen und setzt sich auf den Platz neben mich.
»Glück gehabt«, murmelt sie. »Ich wollte ja für die kleine Seejungfrau vorsingen, aber dann bin ich krank geworden. Hast du auch eine Hauptrolle?«
Ich kann ihr nur mit einem Nicken antworten, denn Ulrich fordert unsere Aufmerksamkeit. Er will uns auf die Sache einstimmen, sagt er, indem er jetzt das Märchen vortragen lässt. Aha, deshalb ist Stefanie da. Für sie wird das auch gleich eine gute Probe sein, denn sie soll bei der Aufführung die verbindenden Texte sprechen.
Stefanie geht mit ihrem Buch nach vorn und setzt sich zurecht:
»Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume und so klar wie das reinste Glas...«
Wir sind mucksmäuschenstill. Die Nachmittagssonne erreicht die Fenster des Musiksaals. Zuerst leuchten nur die Fensterbänke auf, dann wandern helle Vierecke in den Raum herein. Schließlich wird Stefanie von Licht überflutet, aber es stört sie nicht. Sie liest zwanzig Seiten mit ihrer schönen Stimme und ich könnte ihr ewig zuhören. Erst ganz zuletzt bemerke ich ein paar verstohlene Blicke auf die Uhr.
Wir sind alle sehr bewegt. Ich sehe wieder Tränen in Reginas Augen wie damals beim Vorsingen, aber ich kann mich auch täuschen.
Wir besprechen noch Organisatorisches und machen die Einteilung für die Proben. Ulrich findet, dass die Vorlesestunde keine Zeitvergeudung war. Er lächelt Stefanie an. Ich muss mich ziemlich beherrschen, dass ich nicht eifersüchtig werde.
Wann lächelt er mich mal richtig an? Wartet er damit, bis ich volljährig bin?
Wunderbar! Kleinere Wünsche werden einem gelegentlich sofort erfüllt. Ich kriege doch tatsächlich noch heute Ulrichs Lächeln zusammen mit zwei weiteren Liedern, die ich einsingen soll. Oder ob ich etwa gedacht hätte, dass ich nur einen einzigen Auftritt haben würde?
Vor lauter Verblüffung fange ich zu stottern an. »Ich äh … ja.«
Das war’s. Dabei wollte ich eigentlich die geplanten Gesangsstunden erwähnen. Aber vielleicht ist es sowieso günstiger, wenn ich Ulrich mit einer plötzlichen Superstimme überrasche. Damit ihm das passiert, was mir im Konzert in Kiel passiert ist. Er soll mit einem Schlag was kapieren.
Von einem vertraulichen Gespräch mit meiner Mutter und von Frau Dorian
Früher hat unser Telefonkabel meistens ins Zimmer meiner Mutter geführt. Das ist jetzt anders geworden. Wenn jemand das Telefon nicht in der Diele findet, muss er nur dem Kabel nachgehen, und er sieht es unter meiner Tür verschwinden. Anscheinend hat das Telefon für mich im selben Maß an Bedeutung gewonnen, wie es für meine Mutter unwichtiger geworden ist. Sie telefoniert zwar noch mit ihrer Freundin Isabelle oder auch mal mit ihrer Agentur oder mit irgendwelchen Presseleuten, aber wenn ich den Apparat brauche, ist er jetzt meistens frei.
Meine alte Gewohnheit, auf die Wiederholungstaste zu drücken, habe ich nicht aufgegeben. Deshalb kann ich sagen, dass meines Wissens die Nummer, die mit der Null-Null-Vierundvierzig beginnt, nicht mehr gewählt wurde. Mein Vater, von dem ich diesen fiesen Check gelernt habe, vertraut meiner Mutter jetzt unbesehen. Aber ob er nicht doch auch manchmal an die geplante Frühjahrstournee mit Ken denkt? Ich jedenfalls kriege immer einen unangenehmen Druck, wenn sie mir einfällt. Das ganze Drama wird doch nicht wieder von vorn anfangen?
Nur gut, dass ich zu beschäftigt bin, um oft darüber nachzudenken. Meine Freizeit ist so geschrumpft, dass sie gerade noch für Telefonate ausreicht. Die Schule ist härter geworden und wegen der ständigen Proben fürs Musical muss ich allmählich schon überlegen, wie ich mir meine Hausaufgaben einteile. Nichts mehr mit Weggehen. Zu Oma komme ich auch nicht mehr oft raus. Dafür rufe ich sie an. Nach Möglichkeit während Torstens Klavierstunde. Ich bestelle dann einen Gruß für den Doofkopf, was ihn garantiert in Verlegenheit bringt. Denn mit Mädchen kann er ja nur per Mausklick umgehen.
Mit der Kieler Oma telefoniere ich manchmal am Abend. Ich halte sie auf dem Laufenden über das Musical und über meine Ungeduld wegen der Gesangsstunden. Mit dem Konzertbesuch hat sie mir
Weitere Kostenlose Bücher