Meerhexe
den Fingern durch ihre Haare. »Es ist immer noch da, Madeleine.«
»Gott sei Dank«, entfährt es mir.
Sie lacht verwundert. »Hast du etwa daran gezweifelt?«
Als Antwort klappe ich die Augenlider runter.
»Musst du nicht, Madeleine. Es ist alles in Ordnung.«
Jetzt ist meine Mutter nicht mehr ehrlich. Nicht ganz jedenfalls. Sie meint es vielleicht so, aber etwas in ihrem Ton verrät sie. Und dann sehe ich auch die Traurigkeit in ihren Augen. Schnell gucke ich wieder auf meine Hände hinunter.
»Das Einzige, was nicht in Ordnung ist«, sagt meine Mutter und lacht trocken auf, »ist, dass wir nur ein Leben haben. Nur ein Leben, verdammt.«
Seit wann flucht sie?
»Und immer nur eine Möglichkeit. Und dass wir uns entscheiden müssen. So ist das, Madeleine. Leider.« Mama räuspert sich. »Aber Schluss jetzt«, sagt sie und zwingt ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Damit überfordere ich dich. Du hast das ganze Leben noch vor dir und denkst, tausend Wege stehen dir offen. Was ja auch stimmt für die nächsten Jahre und solange du willst. Aber wenn du dich mal entschieden hast…« Meine Mutter breitet die Arme aus und lässt sie wieder fallen. »Was soll’s. Komm, steh auf, wir haben was vor.«
Wir gehen zwei BHs kaufen. Nicht von der Stange, wie ich gern gewollt hätte. Sondern im Fachgeschäft, mit Beratung. Denn ich habe eine komplizierte Größe, die sich sowieso demnächst wieder ändern wird.
So vertraut miteinander wie an diesem Nachmittag waren meine Mutter und ich noch nie.
Hurra, ich habe eine Gesangslehrerin! Sie heißt Frau Dorian und lacht dröhnend, sodass man es durch die schallgedämpfte Tür ihres Zimmers bis in den Flur heraus hört. Ich habe mir Frau Dorian selbst ausgesucht. Und so ist das zugegangen:
Mein Vater hat mir von einem Liederabend am Konservatorium erzählt, an dem drei Studenten von drei unterschiedlichen Lehrern singen sollen. Die drei Lehrer hat er mir genau beschrieben. Er selbst, hat er gesagt, will nicht hingehen, denn er muss ja schon den ganzen Tag am Konservatorium sein.
Mein Vater und meine Mutter liefern mich also ab und verdrücken sich ins Kino. Ich bin allein unter den vielen Leuten im Foyer, und als ich mich daran gewöhnt habe, fange ich an, mich richtig erwachsen zu fühlen. Ich laufe herum und gucke mir jeden an. Anscheinend haben die Studenten sämtliche Freunde und Verwandten eingeladen. Deswegen ist es nicht leicht, nach der Beschreibung meines Vaters die Lehrer herauszufinden. Nur Frau Dorian erkenne ich sofort, sie steht mitten in einer Gruppe von Leuten und lacht. Herr Nöstel sitzt bereits im Saal, und zwar hinten und ganz allein. In seiner Hand eine ausgegangene Pfeife, das untrügliche Kennzeichen.
Dann soll es noch eine Frau Kreuzinger geben. Ich entdecke sie endlich, als sie ihren Schüler aus dem Übungszimmer zum Bühneneingang begleitet und dabei hektisch auf ihn einredet. Der Schüler ist ein zukünftiger fetter Tenor, das sieht man ihm jetzt schon an, und die Haare gehen ihm auch bereits aus. Er eröffnet das Konzert. Während seines Gesangs beobachte ich Frau Kreuzinger. Sie sitzt vorgebeugt da, nickt zustimmend oder schüttelt irritiert den Kopf, und als der Tenor seinen Text vergisst und nachsehen muss, rauft sie sich beinahe die Haare. Sie macht jeden im Umkreis von drei Quadratkilometern nervös.
Herr Nöstel ist das Gegenteil von ihr. Um ihn sehen zu können, muss ich mich umsetzen. Aber es ist die Mühe nicht wert. Denn kein Mensch würde vermuten, dass es seine Schülerin ist, die jetzt auf die Bühne kommt und sich was absingt, so gleichgültig verhält er sich. Hinterher klopft er ihr im Foyer leicht auf den Arm, verschiebt das Gespräch auf die nächste Unterrichtsstunde und verabschiedet sich. Er verlässt das Haus mit den Schritten eines Menschen, der für diesen Tag genug hat. Das Mädchen steht einen Moment verloren da, dann wird sie von ihren Verwandten umringt.
Bisher haben wir klassische Arien gehört. Nach der Pause soll es laut Programm spanische Lieder geben, von einer Sängerin mit dem Vornamen Sonja, Schülerin von Frau Dorian.
Die sammelt im Foyer Studenten um sich, und weil sie sich keine Mühe gibt, leise zu reden, kann ich alles gut verstehen. Herr Nöstel hat seine Schülerin gesiezt und Frau Kreuzinger ihren Tenor. Frau Dorian siezt die Studenten nicht. »Dass ihr mir die Sonja unterstützt!«, ruft sie. »Lacht sie an! Applaudiert ordentlich, wenn sie reinkommt! Trauergesichter könnt ihr bei einer Beerdigung
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