Meerjungfrau
musste sich von der Familie trennen.
Die Stimmen hatten das Gleiche gesagt. Eines Tages waren sie zu ihm gekommen, nicht unfreundlich oder unheimlich, sondern eher wie Vertraute, die ihm in bester Absicht etwas zuflüsterten.
Er hatte nur ein einziges Mal an seinem Entschluss gezweifelt, weil er an Alice dachte. Aber das ging schnell vorüber. Die Stimmen wurden stärker, und er beschloss, nur noch bis zum Ende des Sommers zu bleiben. Dann würde er gehen und sich nie wieder umsehen. Alles, was mit Mutter und Vater zu tun hatte, würde er hinter sich lassen.
An diesem Tag wollte Alice ein Eis. Alice wollte immer Eis haben, und wenn er Lust hatte, ging er mit ihr zum Kiosk auf dem Marktplatz. Sie nahm immer das Gleiche: eine Waffel mit drei Kugeln Erdbeereis. Manchmal tat er so, als hätte er sie falsch verstanden, und verlangte stattdessen Schokolade, um sie zu ärgern. Dann schüttelte sie heftig den Kopf, zerrte an seinem Arm und stammelte »Erdbeere«.
Wenn Alice ihr Eis hatte, war sie im siebten Himmel. Sie strahlte vor Glück und konzentrierte sich auf den Genuss. Systematisch schleckte sie immer ringsherum, damit kein Tropfen verlorenging. Diesmal war es genauso. Sie bekam ihr Eis zuerst und entfernte sich ein Stück, während er seine Waffel entgegennahm und anschlieÃend bezahlte. Als er sich umdrehte und hinter ihr hergehen wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne. Erik, Kenneth und Magnus. Sie saÃen da und sahen ihn an. Erik grinste.
Er merkte, dass sein Eis bereits über die Waffel und seine Hand tropfte. Trotzdem musste er an ihnen vorbei. Er bemühte sich, geradeaus zu schauen, aufs Wasser. Versuchte, ihre Blicke und das immer heftigere Klopfen seines Herzens nicht zu beachten. Er ging einen Schritt und dann noch einen. Dann schlug er lang hin. Erik hatte genau im richtigen Moment das Bein ausgestreckt. In letzter Sekunde stützte er sich noch mit den Händen ab. Das Gewicht auf den Handgelenken schmerzte. Das Eis landete auf dem Asphalt, zwischen den Schottersteinchen und im Dreck.
»Hoppla«, sagte Erik.
Kenneth lachte nervös. Magnus starrte Erik vorwurfsvoll an.
»Das war vollkommen überflüssig.«
Erik schien sich nicht darum zu scheren. Seine Augen leuchteten. »Du hast sowieso schon genug Eis gegessen.«
Mühsam rappelte er sich auf. Seine Arme schmerzten, und in die Handflächen hatte sich Schotter gebohrt. Er klopfte sich die Hose ab und humpelte los, so schnell er konnte. Eriks Lachen ging ihm trotzdem nicht aus dem Kopf.
Ein Stück entfernt wartete Alice auf ihn. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging er einfach weiter. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie ihm im Laufschritt folgte, aber erst als sie fast zu Hause waren, blieb er stehen und verschnaufte. Alice blieb ebenfalls stehen. Zuerst stand sie nur stumm da und lauschte seinem Keuchen. Dann reichte sie ihm ihr Eis.
»Hier, Christian. Nimm mein Eis. Erdbeere.«
Er betrachtete ihre ausgestreckte Hand und das Eis. Erdbeereis, das Alice heià und innig liebte. In diesem Augenblick begriff er die Tragweite dessen, was er ihr angetan hatte. Die Stimmen begannen zu schreien. Beinahe platzte ihm der Kopf. Er fiel auf die Knie und hielt sich die Ohren zu. Die Stimmen mussten aufhören, er musste sie zum Schweigen bringen. Dann spürte er Alices Arme um sich, und es wurde still.
E r hatte die ganze Nacht geschlafen wie ein Stein. Trotzdem war er nicht ausgeruht.
»Liebling?« Keine Antwort. Nach einem Blick auf die Uhr fluchte er laut. Halb neun. Jetzt musste er sich sputen, sie hatten heute einiges zu erledigen.
»Erica?« Er ging nach unten, aber von Frau und Tochter keine Spur. In der Küche stand eine Kanne Kaffee für ihn bereit, und auf dem Tisch lag eine Nachricht in Ericas Handschrift:
Ich habe Maja in den Kindergarten gebracht, Liebling. Habe über das nachgedacht, was Du mir gestern erzählt hast, und muss jetzt einer Sache nachgehen. Sobald ich mehr weiÃ, melde ich mich. Könntest Du zwei Dinge für mich herausfinden? 1. Hat Christian seiner Schwester Alice einen Kosenamen gegeben? 2. Welche Krankheit hatte Christians biologische Mutter? Küsschen, Erica. PS: Nicht böse sein.
Was stellte sie denn nun schon wieder an? Er hätte wissen müssen, dass sie es nicht lassen konnte. Er schnappte sich das Telefon und wählte Ericas Handynummer. Nach kurzer Zeit meldete sich der Anrufbeantworter. Er beruhigte
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