Meerjungfrau
überhaupt kam, denn in den letzten Jahren war ihr jeder Zeitpunkt für ein Gläschen Wein recht gewesen. Nun brauchte sie einen klaren Kopf. Sie musste stark und entschieden sein.
Da sie über die erforderlichen Informationen verfügte, konnte sie einen Zauberspruch murmeln und wie Gundel Gaukeley mit einem einzigen Fingerzeig alles auf den Kopf stellen. Sie fing an zu kichern und musste schlieÃlich laut lachen. Glucksend stellte sie ihr Glas auf die Arbeitsfläche und betrachtete ihr strahlendes Spiegelbild in der blitzblanken Kühlschranktür. Sie hatte wieder die Macht über ihr Leben. Und bald würde die Bombe platzen.
Er hatte alles in die Wege geleitet. Der Eilbote mit den Ermittlungsunterlagen aus Göteborg war unterwegs. Patrik jubelte innerlich, aber wirkliche Freude wollte sich nicht einstellen. Noch immer konnte er Erica nicht erreichen, und der Gedanke, dass sie in hochschwangerem Zustand herumrannte und Gott weià was trieb, machte ihm Sorgen. Natürlich konnte sie auf sich selbst aufpassen. Das war einer der vielen Gründe, warum er sie liebte. Trotzdem konnte er es nicht lassen, sich Sorgen zu machen.
»In einer halben Stunde sind sie hier!«, rief Annika, die den Boten beauftragt hatte.
»Super!«, erwiderte er. Dann stand er auf und zog sich die Jacke an. Auf dem Weg nach drauÃen murmelte er Annika etwas Unverständliches zu. Dann lief er durch den schneidenden Wind zum Kaufhaus Hedemyrs. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er früher auf die Idee hätte kommen können, aber sie passte nicht in sein gewohntes Denkmuster. Wenn er ehrlich war, von selbst hätte er nie daran gedacht. Nicht bevor er erfuhr, wie Christian seine Schwester genannt hatte. Meerjungfrau.
Die Bücher waren im Erdgeschoss. Schnell fand er, was er suchte. Die Werke von Autoren aus der Region wurden besonders beworben, und er musste lächeln, als er einen groÃen Verkaufsständer mit Ericas Büchern und ein Plakat mit ihrem lebensgroÃen Bild entdeckte.
»Wie schrecklich, dass es so enden musste«, murmelte die Kassiererin, als er das Buch bezahlte. Da ihm der Sinn nicht nach einem Gespräch stand, nickte er nur. Er steckte sich das Buch unter die Jacke und rannte zurück zur Dienststelle. Annika sah ihn an, sagte aber nichts.
Er zog die Tür hinter sich zu, setzte sich an den Schreibtisch und machte es sich so bequem wie möglich. Er schlug das Buch auf und fing an zu lesen. Eigentlich hatte er unheimlich viel zu erledigen, praktische und auch polizeiliche Dinge. Doch irgendetwas sagte ihm, dass das hier wichtig war. Also setzte sich Patrik zum ersten Mal in seiner Laufbahn hin, um während der Arbeitszeit ein Buch zu lesen.
Er wusste nicht genau, wann er entlassen werden würde, aber es war ihm auch vollkommen egal. Er konnte hierbleiben oder nach Hause gehen. Sie würde ihn überall finden.
Vielleicht war es sowieso besser, wenn sie ihn zu Hause erwischte, wo Lisbet noch immer anwesend war. Er wollte vorher auch noch ein paar Dinge erledigen. Zum Beispiel Lisbets Beerdigung. Sie würde im engsten Kreis stattfinden. Helle Kleidung, keine traurige Musik, und sie sollte ihr gelbes Tuch tragen. Darauf hatte sie groÃen Wert gelegt.
Ein vorsichtiges Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte zur Tür. Erica Falck. Was sie wohl von ihm wollte, fragte er sich ohne wirkliches Interesse.
»Darf ich reinkommen?« Wie alle anderen Besucher blickte sie auf seine Verbände. Er machte eine Geste, die alles hätte bedeuten können. Kommen Sie rein oder lassen Sie mich in Ruhe. Er wusste selbst nicht, was er damit sagen wollte.
Sie trat jedenfalls ein, zog sich einen Stuhl heran, setzte sich ganz nah an seinem Kopf zu ihm ans Bett und sah ihn freundlich an.
»Sie wissen doch, wer Christian war, oder? Nicht Christian Thydell. Christian Lissander.«
Im ersten Moment wollte er sie genauso anlügen, wie er ruhigen Gewissens die Polizisten belogen hatte. Aber ihr Tonfall und ihr Gesichtsausdruck waren anders. Sie kannte die Antwort bereits, zumindest einen Teil davon.
»Ja, das weià ich«, sagte Kenneth. »Ich weiÃ, wer er war.«
»Erzählen Sie mir von ihm«, sagte sie. Sie schien ihn mit seinen Fragen zu durchbohren.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Die ganze Schule hat auf ihm herumgehackt. Und wir ⦠waren die Schlimmsten. Erik war der Anführer.«
»Sie haben
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