Meerjungfrau
überlegte, wo sie anfangen sollte. Noch war es ihr nicht gelungen, alle Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen. Wie die Farben und Formen in einem Kaleidoskop veränderte sich ständig das Muster. Irgendwo musste es jedoch eine Struktur geben, und vielleicht konnte Thorvald ihr helfen, sie zu finden. Kurz vor ihrer Ankunft in Göteborg hatte sie Patriks Nachricht abgehört. Seinen Anruf hatte sie zwar bemerkt, war aber nicht ans Telefon gegangen, um sich seine Fragen zu ersparen. Patriks Informationen überraschten sie nicht, sondern bestätigten nur, was sie ohnehin vermutet hatte.
Erica sammelte ihre Gedanken einen Augenblick und begann dann zu erzählen. Ohne Unterbrechung erklärte sie ihm in einem Zug alles, was sie wusste. Thorvald hörte ihr hinter seinem Schreibtisch konzentriert zu. Er hatte die Ellbogen aufgestellt und die Fingerspitzen aneinandergelegt. Während sie in Worte fasste und mit eigenen Ohren hörte, wie grauenhaft die Geschichte war, verkrampfte sich ihr immer wieder der Magen.
Nachdem sie fertig war, schwieg Thorvald. Erica war auÃer Atem, als wäre sie eine weite Strecke gerannt. Eins der Babys trat sie heftig ins Zwerchfell, es schien sie daran erinnern zu wollen, dass es auch das Gute und die Liebe auf der Welt gab.
»Wie siehst du selbst das Ganze?«, fragte Thorvald schlieÃlich.
Nach kurzem Zögern legte sie ihre Theorie dar. Sie war im Laufe der Nacht entstanden, als sie wach gelegen und an die Decke gestarrt hatte, während neben ihr Patrik tief und fest schlief. Auf der E6 nach Göteborg hatte diese Theorie noch deutlicher Form angenommen. Ziemlich bald war Erica klargeworden, dass sie mit Thorvald darüber sprechen musste. Er konnte ihr sagen, ob ihre Interpretation so verrückt war, wie sie klang, und ob ihre Phantasie mit ihr durchgegangen war.
Aber das tat er nicht. Stattdessen sah er sie an. »Das ist durchaus möglich. Was du sagst, kann durchaus sein.«
Mit einer Mischung aus Entsetzen und Erleichterung atmete sie auf. Nun war sie ganz sicher, dass sie richtiglag. Aber was das bedeutete, war nahezu unvorstellbar.
Sie sprachen fast eine Stunde miteinander. Erica stellte Fragen und brachte so viel wie möglich in Erfahrung. Wenn sie weiterkommen wollte, brauchte sie alle Fakten. Sonst konnte sie einem gewaltigen Irrtum erliegen. Einige Puzzleteile fehlten ihr noch immer. Sie verfügte über genügend Einzelheiten, um das Motiv zu erkennen, aber an manchen Stellen klafften groÃe Lücken. Bevor sie von ihrer Theorie erzählen konnte, musste sie diese Lücken füllen.
Als sie wieder im Auto saÃ, lehnte sie den Kopf an das kühle Lenkrad. Auf ihren nächsten Besuch, die Fragen, die sie stellen musste, und auf das, was sie erfahren würde, freute sie sich nicht. Aber sie hatte keine Wahl.
Sie lieà den Motor an und machte sich auf den Weg nach Uddevalla. Ein Blick auf das Handy verriet ihr, dass sie zwei Anrufe von Patrik verpasst hatte. Er musste warten.
Sobald die Bank öffnete, rief sie an. Erik hatte sie immer unterschätzt. Sie war äuÃerst geschickt darin, anderen Menschen etwas zu entlocken. AuÃerdem verfügte sie über alle notwendigen Konto- und Geheimzahlen der Firmen, um die richtigen Fragen zu stellen. Und ihre Stimme klang so professionell und fordernd, dass der Bankangestellte gar nicht zu fragen wagte, ob sie zu diesen Fragen berechtigt war.
Nachdem Louise aufgelegt hatte, blieb sie eine Weile am Küchentisch sitzen. Alles weg. Nun, nicht ganz. Er war so groÃzügig gewesen, einen kleinen Rest übrigzulassen, damit sie eine Weile über die Runden kamen. Aber ansonsten hatte er die Privat- und Geschäftskonten leer geräumt.
Zorn durchfuhr sie wie eine Urgewalt. So leicht würde sie ihn nicht davonkommen lassen. Er war so unfassbar dumm und hatte offenbar geglaubt, sie wäre genauso beschränkt. Da er unter seinem eigenen Namen ein Flugticket gebucht hatte, hatte sie nach kurzer Zeit herausgefunden, wann er abfliegen und wohin die Reise gehen würde.
Louise stand auf, holte ein Weinglas aus dem Schrank, hielt es unter den Zapfhahn und sah die wunderbare rote Flüssigkeit hineinströmen. Sie brauchte sie heute mehr denn je. Sie führte das Glas zum Mund, doch als der Geruch sie in den Nasenlöchern kitzelte, hielt sie inne. Dies war nicht die richtige Gelegenheit. Es erstaunte sie, dass ihr dieser Gedanke
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