Meerjungfrau
solche Dinge wohl lieber für sich.«
»Sollte er nicht zur Polizei gehen?«
»Woher willst du wissen, ob Christian das nicht getan hat?« Planlos schaufelte Erik seine Papierstapel von einer Seite zur anderen.
»Stimmt â¦Â« Kenneth versank in Schweigen. »Aber was soll die Polizei machen, wenn die Briefe anonym sind. Ich meine, da kann doch Gott weià wer dahinterstecken.«
»Was fragst du mich?« Erik fluchte, weil er sich an einer Papierkante geschnitten hatte. »Verdammter Mist.« Er steckte den blutenden Finger in den Mund.
»Glaubst du, die Sache ist ernst gemeint?«
Erik seufzte. »Warum müssen wir uns den Kopf darüber zerbrechen? Ich habe auch keine Ahnung.« Gegen Ende des Satzes wurde seine Stimme ein wenig lauter und überschlug sich. Kenneth warf ihm einen verwunderten Blick zu. Erik war wirklich nicht er selbst. Hatte die Firma Probleme?
Kenneth hatte Erik nie getraut. Hatte er eine Dummheit begangen? Sofort schob er den Gedanken beiseite. Dafür hatte er eine zu gute Ãbersicht über die Rechnungsbücher. Wenn Erik etwas anstellte, würde Kenneth es als Erster merken. Wahrscheinlich hatte es mit Louise zu tun. Es war ihm ein Rätsel, wie die beiden es so lange zusammen ausgehalten hatten. AuÃenstehenden war klar, dass es für beide ein Segen gewesen wäre, wenn sie sich endlich getrennt hätten und jeder seiner Wege gegangen wäre. Aber es stand ihm nicht zu, das zur Sprache zu bringen. Im Ãbrigen hatte er mit seinen eigenen Sorgen genug zu tun.
»Ich frage ja nur«, murmelte Kenneth.
Er öffnete die Excel-Datei mit der letzten Monatsabrechnung, doch mit den Gedanken war er ganz woanders.
Das Kleid roch immer noch nach ihr. Christian presste seine Nase hinein und sog gierig die winzigen Reste ihres Parfüms ein, die noch im Stoff hingen. Als er die Augen schloss und sich auf den Duft konzentrierte, sah er sie deutlich vor sich. Das dunkle Haar, das ihr bis zur Taille reichte. Meistens flocht sie es zu einem Zopf oder steckte es im Nacken zusammen. Das hätte altmodisch oder bieder aussehen können, war bei ihr aber nicht der Fall.
Sie hatte ihre Karriere zwar an den Nagel gehängt, aber sie bewegte sich noch immer wie eine Tänzerin. Ihr habe es nur am richtigen Biss gefehlt, sagte sie. Das Talent war vorhanden, doch sie war nicht bereit, alles andere hintanzustellen und dem Tanz ihre Zeit, ihr Lachen, ihre Freunde und die Liebe zu opfern. Dafür lebte sie viel zu gern.
Also hatte sie aufgehört zu tanzen. Doch als sie sich kennenlernten, steckte ihr der Tanz noch in den Gliedern. Bis zum Schluss. Er konnte stundenlang dasitzen und ihr zuschauen. Er beobachtete sie, wenn sie summend durchs Haus ging und ihre FüÃe sich selbst beim Aufräumen so anmutig bewegten, als würde sie schweben.
Wieder drückte er sich das Kleid ans Gesicht. Der seidige Stoff glitt über seine Bartstoppeln und kühlte seine fiebrigen Wangen. An einem Mittsommerabend hatte sie das Kleid zuletzt getragen. Der blaue Stoff hatte die Farbe ihrer Augen gespiegelt und mit dem dunklen Zopf auf ihrem Rücken um die Wette geglänzt.
Es war ein wunderbarer Abend gewesen. Ein Mittsommerfest mit strahlendem Sonnenschein. Sie hatten im Hof gesessen und Hering mit frischen Pellkartoffeln gegessen. Das Essen hatten sie gemeinsam zubereitet. Das Kind lag im Schatten. Der Wagen war mit einem Mückennetz abgedeckt, und das Kind war so geschützt.
Der Name des Kindes kam ihm in den Sinn. Er zuckte zusammen, als hätte er sich an einem scharfen Gegenstand verletzt. Er zwang sich, stattdessen an beschlagene Gläser und die Freunde zu denken, die miteinander anstieÃen und auf den Sommer, die Liebe und sie beide tranken. Er dachte an die groÃe Schüssel Erdbeeren, die sie nach drauÃen trug. Erinnerte sich, wie sie am Küchentisch gesessen und die Früchte geputzt hatte. Er neckte sie, weil der Schwund so groà war. Jede dritte Erdbeere landete in ihrem Mund und nicht in der Schüssel, die sie den Gästen mit der geschlagenen Sahne servieren wollte. Einen kleinen Löffel Zucker hatte sie hineingerührt, so hatte sie es von ihrer GroÃmutter gelernt. Lachend hatte sie seine Scherze hingenommen, ihn an sich gezogen und mit Lippen geküsst, die nach reifen Beeren schmeckten.
Mit dem Kleid in der Hand begann er zu schluchzen. Er konnte gar nicht mehr aufhören. Der Stoff bekam dunkle
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