Meerjungfrau
Als er auf dem Display den Namen eines guten Freundes erblickte, sackten seine Schultern vor Enttäuschung nach unten. Er wagte nicht, den Anruf entgegenzunehmen. Wenn die beiden anriefen, durfte sein Anschluss auf keinen Fall besetzt sein.
Da er den Hund nicht mehr sehen konnte, steckte er das Telefon wieder ein und humpelte in die Richtung, wo Rocky zuletzt herumgeschnüffelt hatte. In seinem Augenwinkel bewegte sich etwas Helles. Er blickte übers Wasser.
»Rocky!«, rief er erschrocken. Der Hund war aufs Eis gelaufen. Mit gesenktem Kopf stand er fast zwanzig Meter weit drauÃen. Als er Göte rufen hörte, bellte er wie wild und scharrte mit den Pfoten. Göte hielt den Atem an. In einem langen und kalten Winter hätte er sich keine Sorgen gemacht. Früher waren Britt-Marie und er oft mit Butterbroten und einer Thermoskanne Kaffee im Gepäck übers Eis zu einer der nahen Inseln spaziert. Doch nun hatte es zwischen den Frostperioden immer wieder getaut, und die Eisdecke war trügerisch.
»Rocky!«, rief er noch einmal. »Komm her!« Er legte so viel Strenge wie möglich in seine Stimme, aber der Hund beachtete ihn gar nicht.
Nun hatte Göte nur noch einen Gedanken im Kopf. Er durfte Rocky nicht verlieren. Falls der Hund in das eiskalte Wasser einbrach, würde er nicht überleben, und das hätte Göte nicht verkraftet. Sie waren seit Jahren ein Herz und eine Seele. AuÃerdem freute Göte sich so darauf, sein Enkelkind mit dem Hund herumtoben zu sehen, dass er sich das Ganze ohne Rocky gar nicht mehr vorstellen konnte.
Er ging vor bis zur Wasserkante. Setzte einen Fuà aufs Eis und prüfte, ob es ihn trug. An der Oberfläche platzten tausend haarfeine Risse auf, aber nicht in der Tiefe. Offenbar war es dick genug für ihn. Er wagte sich weiter. Rocky kläffte und kratzte noch immer mit den Pfoten auf dem Eis.
»Komm her«, lockte Göte ihn, aber der Hund wollte sich offenbar nicht von der Stelle rühren.
Das Eis erschien ihm hier viel stabiler als am Strand. Trotzdem beschloss Göte, das Risiko auf ein Minimum zu reduzieren und sich auf den Bauch zu legen, was äuÃerst mühsam war. Tapfer ignorierte er die Kälte, die ihm durch Mark und Bein drang, obwohl er dick eingepackt war.
Es war schwierig, sich auf diese Weise vorwärtszubewegen. Seine FüÃe rutschten an der Oberfläche ab, als er sich abstoÃen wollte. Er wünschte, er wäre weniger eitel gewesen und hätte sich, wie jeder vernünftige Rentner, auch endlich Spikes zugelegt.
Er blickte sich um und entdeckte zwei Stöcke. Irgendwie gelang es ihm, zu ihnen zu robben. Sie lieÃen sich als eine Art Eispickel verwenden, und er kam nun schneller voran. Zentimeterweise näherte er sich dem Hund. Hin und wieder rief er ihn, aber was immer Rocky dort entdeckt haben mochte, war offenbar viel zu interessant, um es auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Als Göte es fast geschafft hatte, hörte er das Eis unter seinem Körpergewicht ächzen und knacken. Er erlaubte sich noch einen Gedanken über die Ironie des Schicksals, das ihn monatelang in einer Rehaklinik festgehalten hatte, nur damit er nun vor Sälvik ins Eis einbrach und ertrank. Bis jetzt schien die Eisdecke allerdings zu halten, und er war schon so nah an Rocky dran, dass er die Hand nach ihm ausstrecken und sein Fell berühren konnte.
»Hier kannst du nicht bleiben, mein Junge«, beruhigte er ihn und rutschte noch ein Stück näher, um nach dem Halsband zu greifen. Wie er anschlieÃend sich selbst und den störrischen Hund an Land befördern sollte, wusste er noch nicht. Aber auch das würde er irgendwie schaffen.
»Was ist da eigentlich so wahnsinnig spannend?« Er packte das Halsband und blickte in die Tiefe.
In seiner Tasche klingelte das Handy.
Wie immer am Montagmorgen kam er mit der Arbeit nicht recht voran. Patrik hatte die FüÃe auf den Schreibtisch gelegt. Er starrte das Foto von Magnus Kjellner an, als könnte er ihn auf diese Weise dazu bewegen, endlich seinen Aufenthaltsort beziehungsweise den seiner sterblichen Ãberreste zu verraten.
Auch Christian machte ihm Sorgen. Patrik öffnete die rechte Schublade und zog die Plastikhülle mit dem Brief und der Karte heraus. Am liebsten hätte er sie kriminaltechnisch analysieren lassen, vor allem die Fingerabdrücke. Aber er hatte nicht genug Anhaltspunkte. Bis jetzt war nichts
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