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Meerjungfrau

Meerjungfrau

Titel: Meerjungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Läckberg
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Kopf strich und ihn mit diesem Blick ansah. Er wusste, wer sie ihm genommen hatte.
    Am Tag zuvor hatte er sich wie ein Indianer an den Wohnwagen angeschlichen. Mit einer Vogelfeder im Haar tappte er in seinen Mokassins heran. Er war Häuptling Düsterwolke, und Mutter und Vater waren die Bleichgesichter. Hinter der Gardine sah er sie sich bewegen. Mutter ruhte nicht, sondern war auf und redete. Düsterwolke freute sich, weil es ihr jetzt vielleicht besserging, vielleicht machte das Baby sie nicht mehr krank. Ihre Stimme klang glücklich. Müde, aber glücklich. Auf leisen Sohlen kam Düsterwolke noch näher, weil er die fröhliche Stimme von Bleichgesicht so gern hörte. Schritt für Schritt schlich er sich an, versteckte sich unter dem offenen Fenster, hockte sich mit dem Rücken an die Wand, schloss die Augen und lauschte.
    Als sie über ihn sprach, öffnete er die Augen. Dann brach all das Schwarze mit voller Wucht über ihn herein. Er war wieder bei ihr, hatte den unheimlichen Geruch in den Nasenlöchern und hörte, wie in seinem Kopf die Stille widerhallte.
    Mutters Stimme drang durch die Stille und das Dunkel zu ihm durch. Er verstand genau, was sie sagte. Klein, wie er war. Sie bereute, dass sie seine Mutter geworden war. Nun würden sie ein richtiges Kind bekommen. Wenn sie vorher gewusst hätte, dass das möglich war, hätte sie ihn nie genommen. Vater sagte in seinem müden Ton: »Jetzt ist der Junge aber da, und wir müssen das Beste aus der Situation machen.«
    Düsterwolke rührte sich nicht. In diesem Augenblick wurde der Hass geboren. Er selbst hätte das Gefühl nicht in Worte fassen können. Aber es fühlte sich gut an. Gleichzeitig quälte es ihn.
    Als Vater den Primuskocher, ihre Kleidung, die Konservendosen und den restlichen Kram ins Auto stopfte, packte er seinen Hass ein. Er füllte die gesamte Rückbank. Aber Mutter hasste er nicht. Wie sollte er? Er liebte sie doch.
    Er hasste den Menschen, der sie ihm genommen hatte.

E rica war zur Bibliothek in Fjällbacka gefahren. Sie wusste, dass Christian heute freihatte. Im Frühstücksfernsehen hatte er sich ganz gut gemacht, vor allem in der zweiten Hälfte. Als man ihn jedoch nach den Drohungen fragte, war seine Nervosität erkennbar gewesen. Erica konnte nicht mit ansehen, wie er einen hochroten Kopf bekam und zu schwitzen anfing, und schaltete den Fernseher noch vor Ende des Interviews ab.
    Nun lief sie hier zwischen den Regalen herum und tat, als würde sie ein Buch suchen, während sie in Wirklichkeit fieberhaft überlegte, wie sie ihre eigentliche Absicht in die Tat umsetzen sollte: Sie wollte mit Christians Kollegin May sprechen. Denn je länger Erica über die Briefe nachdachte, desto sicherer war sie, dass Christian nicht von einem Fremden bedroht wurde. Die Sache erschien ihr vielmehr persönlich, und des Rätsels Lösung musste sich in Christians Umfeld verbergen. Oder in seiner Vergangenheit.
    Das Problem war nur, dass er immer äußerst verschwiegen gewesen war. An diesem Morgen hatte sie alles aufschreiben wollen, was Christian je über sein Leben berichtet hatte, doch sie blieb vor einem leeren Blatt sitzen. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie überhaupt nichts wusste. Obwohl sie und Christian während der Arbeit an seinem Manuskript viel Zeit miteinander verbracht hatten und sich, zumindest Ericas Ansicht nach, viel näher gekommen und Freunde geworden waren, hatte er rein gar nichts erzählt. Sie wusste nicht, wo er herkam, wie seine Eltern hießen oder was sie beruflich machten. Nicht, wo er studiert und ob er in seiner Jugend Sport getrieben hatte, mit wem er befreundet gewesen war und ob er zu diesen Leuten noch Kontakt hatte. Sie wusste nichts.
    Das allein schon ließ bei ihr die Alarmglocken schrillen, denn in Gesprächen gibt man unabsichtlich immer Kleinigkeiten oder zumindest Bruchstücke von Informationen über sich preis und offenbart, wie man sich zu der Person entwickelt hat, die man heute ist. Weil Christian seine Zunge so sorgfältig hütete, war Erica noch mehr davon überzeugt, dass sich die Lösung in seinem engsten Kreis finden würde. Die Frage war nur, ob er allen gegenüber so verschlossen gewesen war. Vielleicht hatte eine Kollegin, die täglich mit ihm zusammenarbeitete, irgendetwas aufgeschnappt.
    Erica warf einen Seitenblick in Mays Richtung, die am Computer saß und tippte.

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