Beuteschema: Thriller (German Edition)
Prolog
Rochester, Juli 1989
Unverkennbar zog ein Gewitter auf. Die Luft war vollgesogen mit Feuchtigkeit, und vom Lake Ontario her türmten sich zornig graue Wolken auf. Auch wenn der nördliche Teil des Bundesstaats New York vor allem für seine langen, harten Winter bekannt ist, wird einem jeder Einheimische in Rochester erzählen, dass ein Sommergewitter in zehn Minuten mehr Chaos verursachen kann, als ein halber Meter Schnee, der im Lauf von zehn Stunden fällt. Doch dies waren die Hundstage des Jahres ’89. Die beiden achtjährigen Mädchen, die in der Einfahrt des großen weißen Kolonialstilhauses in der Burt Street 55 im Park Avenue Distrikt seilhüpften, hatten noch nicht bemerkt, was auf sie zukam.
Das dunkelhaarige Mädchen, das in dem Haus wohnte, sah das Auto zuerst– einen leuchtend weißen BMW , der sich schnell näherte. Er blieb plötzlich mit quietschenden Reifen vor der Einfahrt stehen. Ein Mann Ende vierzig, der ein Polohemd und Shorts trug, sprang sichtlich aufgewühlt aus dem Wagen.
Der Mann sagte, sein Name sei Mr. Winslow und er müsse mit ihnen reden. Das dunkelhaarige Mädchen blinzelte und trat einen Schritt zurück, da es spürte, dass etwas nicht stimmte. Mr. Winslow wandte sich an Amy, die Freundin des dunkelhaarigen Mädchens. Er sagte, er würde mit Amys Vater zusammenarbeiten, und erzählte atemlos und aufgeregt, ihr Vater habe einen schrecklichen Unfall gehabt. Er sei gerade durch die Baustelle gefahren, wo die als » Wurmdose« berüchtigte Kreuzung umgestaltet wurde, als ein Stapel Betonteile in sein Auto gekracht sei. Man habe ihn eiligst ins Strong Memorial Hospital gebracht, und er sei hier, um Amy dorthin zu fahren.
Amy fing an zu weinen und wollte Mr. Winslow zu seinem Wagen folgen, aber das dunkelhaarige Mädchen hatte etwas gespürt, das es nicht erklären konnte. Ehe es selbst recht wusste, was es tat, fragte es Mr. Winslow, wer ihn geschickt habe.
Die Frage erwischte Mr. Winslow auf dem falschen Fuß. Er sah das dunkelhaarige Mädchen böse an und sagte, sein Boss habe ihn geschickt, um Amy abzuholen. Amy versicherte ihrer Freundin, dass alles in Ordnung sei. Mr. Winslow war kein Fremder.
Doch das dunkelhaarige Mädchen konnte das ungute Gefühl in der Magengrube nicht abschütteln. Es dachte an die Warnungen seiner Mutter, es würde zu viele Fragen stellen, eine Gewohnheit, die es eines Tages in Schwierigkeiten bringen werde. Dennoch musste das dunkelhaarige Mädchen mehr wissen.
Deshalb fragte es Mr. Winslow, warum er keinen Anzug wie Amys Vater trug, wenn er direkt von der Arbeit gekommen sei. Mr. Winslow antwortete, er sei gerade auf dem Golfplatz gewesen, und der Boss habe ihn dort angerufen.
Dann fragte das Mädchen, woher er gewusst habe, dass Amy hier bei ihr sei und nicht bei sich zu Hause.
Mr. Winslow atmete langsam aus und antwortete dann, sein Boss habe Amys Mutter angerufen. Die habe ihm erzählt, dass sie hier zum Spielen sei. Dann öffnete er rasch die Beifahrertür. Sie müssten jetzt ins Krankenhaus.
Aber inzwischen beunruhigten die Fragen des dunkelhaarigen Mädchens Amy. Sie sagte, sie würde erst ins Haus gehen und ihre Mutter anrufen.
Das dunkelhaarige Mädchen drehte sich um und lief zum Haus hinauf. Es nahm an, Amy sei hinter ihm, bis es plötzlich schnelle Schritte hörte.
Es drehte sich genau in dem Moment um, in dem Amy schrie. Mr. Winslow hatte Amy hochgehoben und schob sie auf den Vordersitz seines Wagens.
Die Schreie des dunkelhaarigen Mädchens wurden von einer Folge von Donnerschlägen und dem darauf einsetzenden sturzbachartigen Regen ausgelöscht. Der Regen durchweichte die Kleidung des Mädchens, aber es war wie gelähmt vor Angst. Es konnte nichts weiter tun, als dastehen und zuschauen, wie der BMW davonfuhr.
Teil I
1
Gegenwart
Zu jedem beliebigen Zeitpunkt beherbergen die zehn Gefängnisse, aus denen New Yorks Justizvollzugsanstalt Rikers Island besteht, zwischen fünfzehn- und achtzehntausend Insassen, womit sie die größte Strafkolonie der Welt sind. Von diesen Insassen werden rund dreitausend als geisteskrank eingestuft. Diese gigantische Zahl macht Rikers zu einer der größten psychiatrischen Kliniken der Vereinigten Staaten und zu dem Ort, wo eine angehende forensische Psychiaterin wie Claire Waters die Psyche von Verbrechern besser studieren konnte als irgendwo sonst.
Claire hatte mehr als ein Jahrzehnt auf diesen Tag hingearbeitet. Nachdem sie vier Jahre Medizinstudium in Harvard mühelos hinter sich
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