Mehr als nur ein Zeuge
letzte Nacht dich einschüchtern sollte«, sagt er. Jemand will, dass ich tot bin, geht es mir durch den Kopf. Zwar hat DI Morris das Wörtchen »tot« nicht in den Mund genommen, aber genau das meint er, ich bin doch nicht blöd. Zum Glück sind meine Gefühle gerade auf Urlaub, sonst würde ich garantiert eine Scheißangst kriegen.
»Vorerst können Sie nichts Vernünftigeres tun, als sich in unser Zeugenschutzprogramm zu begeben«, sagt Morris. » |20| Doug kümmert sich um Sie. Im Grunde bleibt Ihnen keine andere Wahl.«
Nicki will widersprechen, aber dann macht sie den Mund wieder zu. Doug redet weiter: »Ich muss Ihre Handys mitnehmen, denn wenn man jemanden ausfindig machen will, gibt es keinen einfacheren Weg als das Mobilfunknetz.«
Nicki sträubt sich ein bisschen, aber man merkt, dass sie es nicht ganz ernst meint. Mein Handy ist schon ziemlich abgegammelt, weshalb es mir nicht viel ausmacht. Vielleicht kriege ich ja ein cooles neues als Ersatz.
»Brauchen Sie momentan etwas?«, erkundigt sich DI Morris. »Es wird nämlich ungefähr drei Wochen dauern, bis wir für Sie eine neue Wohnung und neue Identitäten bereitstellen können. Bis dahin bleiben Sie hier und verhalten sich möglichst unauffällig.«
»Frühstück«, sage ich ganz schnell, ehe Nicki mir mit etwas anderem zuvorkommen kann. Alle lachen, dann bringt uns Doug mit seinem Wagen zu einem
Little Chef,
wo ich einen Riesenteller Würstchen und Eier vertilge und Nicki einen schwarzen Kaffee trinkt und so tut, als ob sie nicht weint.
Drei lange Wochen müssen wir in dem verkackten Hotel aushalten. Die meiste Zeit verbringen wir vor der Waschmaschine, weil keiner von uns genug Klamotten eingepackt hat. Andererseits bietet sich mir dadurch eines Tages eine gute Gelegenheit: Es gelingt mir, Nicki zur Apotheke zu schicken, wobei ich ihr erzähle, dass ich |21| schon mal mit der Wäsche anfange. Ich habe heimlich die Plastiktüte mitgenommen und jetzt stecke ich den Inhalt zusammen mit drei Päckchen Fleckenentferner in die Maschine. Als die Sachen wieder rauskommen, ist alles sauber, und jetzt habe ich noch eine graue Kapuzenjacke und eine zweite Jeans.
Wir ernähren uns von gekauften Sandwichs, aber es reicht nie für mich, ich bin ständig am Verhungern und sauer auf Mum, weil sie es nicht mitkriegt. Hunger macht ihr überhaupt nichts aus, sie trinkt sowieso lieber Kaffee und raucht. Und sie nervt mich andauernd damit, dass ich mit der Schule in Verzug komme, was totaler Schwachsinn ist, wenn man gar nicht in die Schule gehen darf. Sie motzt mich ständig an, wenn sie über meine Füße oder über meine Tasche stolpert, und nach zwei Tagen reden wir kaum noch miteinander.
Auf der Hotelglotze kriegt man
Sky Sports
rein und ich hocke die meiste Zeit davor. Fußball, Basketball, Handball, ganz egal. Wenn sich Nicki mit mir unterhalten will, stelle ich lauter. Und ich freunde mich mit Marek an, der in der Hotelküche abwäscht. Ich will ihn dazu überreden, dass er mir Polnisch beibringt, aber als Doug das erfährt – Nicki hat es ihm erzählt. Danke schön, Nic! –, verbietet er mir, überhaupt mit jemandem zu reden, auch mit jemandem, der kaum zehn Worte Englisch kann.
Es ist so todlangweilig, dass wir uns fast schon freuen, Doug zu sehen, als er eines Tages wieder im Hotel auftaucht. |22| Er verkündet, dass er mit uns zu
McDonalds
fährt, was er wohl für ein besonderes kulinarisches Ereignis hält, obwohl wir ihn, wenn er uns gefragt hätte, aufgeklärt hätten, dass wir den Fraß dort beide eklig finden.
»Was möchten Sie gern?«, fragt er. Nicki nimmt einen Salat und Kaffee, ich bestelle zwei Mal Pommes, zwei Big Mac und zwei Milchshakes. Ich bin ja schon froh, dass es ausnahmsweise keine Sandwiches gibt. Mir doch egal, wenn mir hinterher stundenlang schlecht ist. Doug runzelt die Stirn, und ich sehe ihm an, dass er mich für ein gieriges, verfressenes Schwein hält.
Er geht mit uns hoch in den ersten Stock, wo wir ganz allein sitzen. Dort überreicht er Nicki ein Scheckheft und ein paar Kontoauszüge. Das Konto läuft auf den Namen: Ms M. Andrews.
»Michelle«, erläutert Doug. »Michelle und Joe. Vor Kurzem aus Redbridge hergezogen. Michelle, Sie suchen Arbeit, Joe wechselt die Schule.«
»Wieso Joe?«, frage ich mit vollem Mund. Ich hab nichts gegen den Namen, ich bin bloß neugierig.
»Wenn du ihn beim Schreiben mal vergisst, kannst du aus einem T ganz einfach ein J machen«, antwortet er.
»Ach so.« Ich
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