Mein Auge ruht auf dir - Thriller
schließlich.
»Das habe ich bereits. Er weigert sich, darauf einzugehen. Aber mit Ihrer ausweichenden Antwort haben Sie eigentlich schon alles gesagt.«
Alvirah saß auf dem Beifahrersitz, Willy begnügte sich mit der Rückbank und war, falls er das Gespräch überhaupt mitbekam, sicherlich froh, sich heraushalten zu können. Mariah klang, als wäre sie den Tränen nahe.
»Mariah«, sagte Alvirah, »Ihr Vater geht sehr liebevoll mit Ihrer Mutter um und kümmert sich rührend um sie. Manche Dinge sollte man lieber auf sich beruhen lassen, vor allem dann, wenn es mit dem Gedächtnis Ihrer Mutter nicht mehr zum Besten steht.«
»Es ist noch nicht so schlimm, dass sie sich nicht dar an erinnern könnte, wie gern sie mitgefahren wäre«, erwiderte Mariah. »Sie hat Ihnen gesagt, dass sie in Venedig die Flitterwochen verbracht haben. Mom weiß, wie krank sie ist. Sie wollte mitkommen, solange sie noch einigermaßen fit ist. Aber nachdem Lillian auf der Bildfläche erschienen ist, vermute ich, hat Dad einen Arzt dazu gebracht, Mom von der Reise abzuraten. Sie kann sich darüber manchmal fürchterlich aufregen.«
»Weiß sie von Lily?«, fragte Alvirah geradeheraus.
»Dad hat sie mehrmals zu uns zum Essen eingeladen, wenn er sich mit anderen Grabungsteilnehmern getroffen hat, können Sie sich das vorstellen! Ich hätte nie gedacht, dass die beiden etwas miteinander haben, bis Mom Fotos von ihnen in Dads Arbeitszimmer gefunden hat. Sie hat sie mir gezeigt. Ich habe Dad gesagt, er soll sie nicht mehr nach Hause einladen. Aber meine Mutter fragt häufig nach ihr, und dabei wird sie immer sehr wütend.«
Im vergangenen Jahr waren dann Willy und Alvirah oft mit Mariah zu Jonathan und Kathleen gefahren, und Mariah hatte recht. Trotz ihres stetig fortschreitenden Gedächtnisverlusts hatte Kathleen die Sprache immer wieder auf die Venedig-Reise gebracht.
All das ging Alvirah erneut durch den Kopf, als die Queen Mary 2 in den New Yorker Hafen einlief. Jonathan, dachte sie, ist jetzt schon beerdigt. Möge er in Frieden ruhen.
Dann fügte sie mit ihrem unfehlbaren Gespür für drohendes Unheil in Gedanken hinzu: Und, Gott, steh bitte Kathleen und Mariah bei.
Und bitte lass die Polizei herausfinden, dass Jonathan von einem Einbrecher ermordet wurde.
6
D en ganzen Tag über brannte Greg Pearson nur darauf, Mariah mitzuteilen, wie sehr er ihren Kummer verstand und dass er ihr zur Seite stehen wollte. Er wollte ihr sagen, wie sehr er ihren Vater vermisste. Er wollte ihr sagen, wie dankbar er Jonathan war, der ihm so vieles beigebracht hatte, nicht nur über die Archäologie, sondern über das Leben schlechthin.
Als Jons Kollegen und Freunde Geschichten über ihn und seine große Hilfsbereitschaft erzählten, wollte auch er seine Geschichte zum Besten geben. Er hatte Jon nämlich anvertraut, was für ein verunsicherter Junge er früher gewesen war. In der Highschool, so habe ich Jon erzählt, war ich der Typ, der bei 1,68 Metern aufgehört hat zu wachsen, während die anderen auf 1,88 oder 1,90 hochschossen. Das wollte er sagen. Ich war der mickrige Schwächling, das Paradebeispiel eines Verlierers. Ich habe alles Mögliche ausprobiert. Schließlich habe ich es im College auf 1,78 geschafft, aber da war es schon zu spät.
Wahrscheinlich wollte ich von Jonathan bedauert werden, aber das konnte ich mir abschminken. Jonathan hat nur gelacht.
»Du hast deine Zeit also mit Lernen verbracht, statt Basketbälle in den Korb zu werfen«, sagte er. »Du hast eine erfolgreiche Firma aufgebaut. Hol dein Highschool-Jahrbuch heraus und schlag die nach, die damals die tollen Typen waren. Ich wette, die meisten krebsen jetzt irgendwo herum.«
Ich habe Jon erzählt, dass ich sie tatsächlich nachgeschlagen habe, vor allem die, die mir damals das Leben schwer gemacht haben, und er hatte recht. Klar, manche haben es zu was gebracht, aber viele von denen, die damals immer eine große Klappe hatten, sind heute eher ziemliche Nieten.
Er hat es geschafft, dass ich mich selbst so mag, wie ich bin, wollte Greg sagen. Er hat nicht nur sein unglaubliches Wissen über die Antike und die Archäologie mit mir geteilt, sondern mir auch zu einem größeren Selbstwertgefühl verholfen.
Damit hätte Greg es bewenden lassen. Er hätte gar nicht mehr erzählt, dass er Jonathan gebeichtet hatte, wie schüchtern er trotz seiner geschäftlichen Erfolge war, dass er auf Partys immer der Außenseiter blieb, der noch nicht einmal die grundlegendsten Regeln des
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