Mein erfundenes Land
beschützte und heiter ihre Extravaganzen ertrug, die sie andernfalls womöglich hinter die Mauern eines Heims für Spinner gebracht hätten. Ich habe einige Briefe aus ihrer Feder gelesen, in denen sie melancholisch wirkt, in morbider Weise fasziniert vom Tod; und doch ist sie mir als ein lichtes Geschöpf in Erinnerung, voller Schalk und Lebenslust. Ihr Fortgang war wie eine Bö der Vernichtung, das ganze Haus trug Trauer, und ich lernte die Angst kennen. Ich fürchtete mich vor dem Teufel, der inden Spiegeln erscheint, vor den Gespenstern, die in den Winkeln spukten, vor den Mäusen im Keller, davor, daß meine Mutter sterben könnte und ich in ein Waisenhaus käme, daß mein Vater auftauchte – dieser Mann, dessen Namen man nicht aussprechen durfte – und mich weit weg brächte, daß ich sündigte und in die Hölle müßte, fürchtete mich vor den Zigeunerinnen und vor dem schwarzen Mann, mit dem das Kindermädchen mir drohte; kurz, eine endlose Liste und mehr als genug Gründe, in Angst und Schrecken zu leben.
Zornig darüber, daß die große Liebe seines Lebens ihn verlassen hatte, kleidete mein Großvater sich von Kopf bis Fuß in Trauer, strich die Möbel schwarz und verbot Feste, Musik, Blumen und den Nachtisch. Tagsüber verließ er sein Büro kaum, aß mittags in der Stadt, abends im Club de la Unión, und an den Wochenenden spielte er Golf und baskische Pelota oder fuhr in die Berge zum Skilaufen. Auf die Pisten zu gelangen kam damals noch einer Besteigung des Everest gleich, und er war einer der ersten, die diese Strapaze auf sich nahmen; er hätte sich nicht träumen lassen, daß Chile einmal ein Mekka für Wintersportler werden würde, Trainingsgelände für Olympiateams aus der ganzen Welt. Wir Kinder sahen ihn nur morgens in aller Frühe für einen Moment; dennoch war sein Einfluß entscheidend für mich. Bevor wir in die Schule gingen, schauten meine Brüder und ich bei ihm vorbei; er erwartete uns in seinem Schlafzimmer mit den Trauermöbeln, wo es nach englischer Lifebuoy-Seife roch. Zärtlichkeiten durfte man sich nicht erhoffen – die hielt er für ungesund –, aber ein Wort der Anerkennung aus seinem Mund war jede Mühe wert. Später, ich war etwa sieben und begann, die Zeitung zu lesen und Fragen zu stellen, wurde er meiner gewahr, und zwischen uns entspann sich eine Beziehung, die bis weit nach seinem Tod fortdauern sollte, da mein Charakter bis heute Spuren seiner Handschrift trägt und ich von den Geschichten zehre, die er mir erzählte.
Unbeschwert war meine Kindheit nicht, aber dafür interessant. Dank der Bücher von Onkel Pablo, der damals noch Junggeselle war und bei uns wohnte, hatte ich keine Langeweile. Er war ein süchtiger Leser; in seinem Zimmer stapelten sich die Bücher auf dem Fußboden, sammelten Staub und Spinnweben. Er ließ sie ohne Schuldgefühle aus Buchhandlungen und bei Freunden mitgehen, denn er war der Meinung, alles Gedruckte – außer dem seinen – sei Eigentum der Menschheit. Ich durfte die Bücher lesen, weil er seine Lektüregelüste um jeden Preis auf mich übertragen wollte: Als ich Krieg und Frieden , einen Wälzer mit winzigen Buchstaben, ausgelesen hatte, schenkte er mir eine Puppe. Bei uns zu Hause gab es keine Zensur, aber Großvater erlaubte nach neun Uhr am Abend in meinem Schlafzimmer kein Licht mehr, deshalb schenkte mir Onkel Pablo eine Taschenlampe. Meine schönsten Erinnerungen aus diesen Jahren sind die an Bücher, die ich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke las. In Chile lasen die Kinder Romane von Emilio Salgari und Jules Verne, die Kinderenzyklopädie »Schatz der Jugend« und Reihen von kleinen Erbauungsromanen, die Gehorsam und Reinheit als höchste Tugenden predigten; außerdem die Zeitschrift El Peneca , die jeden Mittwoch erschien. Ich stand schon ab Dienstag an der Tür, um sie vor meinen Brüdern abzufangen. Das waren meine Appetithäppchen, danach verputzte ich Schmackhafteres wie Anna Karenina und Die Elenden . Zum Nachtisch gab es Märchen. All die wunderbaren Bücher erlaubten es mir, der eher schäbigen Wirklichkeit des trauernden Hauses zu entfliehen, in dem wir Kinder wie die Katzen bloß Störenfriede waren.
Weil sie ihre Ehe hatte annullieren können, war meine Mutter wieder eine alleinstehende junge Frau, die im Schatten ihres Vaters lebte. Sie hatte einige Verehrer, ein oder zwei Dutzend würde ich schätzen. Schön war sie, von der ätherischenund verletzlichen Schönheit mancher Mädchen von früher, wie man
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