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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Getreuen der Jungfrau vom Karmel, der Schutzheiligen der Streitkräfte,halten die Jungfrau von Lourdes oder La Tirana für minderwertig, was ihnen die Anhänger der letzten beiden mit gleichem Feingefühl vergelten. Apropos La Tirana: Ihr Fest wird im Juli in einer Kirche in der Nähe von Iquique begangen, wobei Gruppen von Gläubigen ihr zu Ehren tanzen. Das erinnert ein bißchen an brasilianischen Karneval, aber in Maßen, denn wir Chilenen sind, wie gesagt, nicht sehr extrovertiert. Verschiedene Tanzschulen studieren das ganze Jahr über Choreographien ein und nähen Kostüme, und an dem großen Tag tanzen dann alle vor der Jungfrau und sind dabei zum Beispiel als Batman verkleidet. Die Dekolletés der Mädchen lassen tief blicken, ihre Miniröcke bedecken nur knapp den Po, und ihre Beine stecken in hochhackigen Stiefeln. Es muß einen also nicht wundern, daß die Kirche diese Demonstrationen des Volksglaubens nicht unterstützt.
    Wem die vielköpfige und bunte Schar der Heiligen nicht genügt, der kann aus einem reichen, mündlich überlieferten Schatz von Geschichten schöpfen, die von bösen Geistern und von Ränken des Leibhaftigen erzählen oder von Toten, die sich aus ihren Gräbern erheben. Mein Großvater schwor Stein und Bein, ihm sei der Teufel in einem Autobus erschienen, er habe ihn genau erkannt, weil er grüne Bocksbeine hatte.
    Auf Chiloé, einer Inselgruppe im Süden des Landes vor Puerto Montt, erzählt man sich Geschichten von Hexern und bösartigen Ungeheuern, von der Pincoya, einer schönen Jungfrau, die den Fluten entsteigt und die arglosen Männer fängt, und von der Caleuche, einem verwunschenen Schiff, das die Toten mitnimmt. In Vollmondnächten zeigen funkelnde Lichter an, wo versteckte Schätze liegen. Es heißt, Chiloé sei lange von Hexern regiert worden, die sich zur sogenannten »Recta Provincia«, der »Provinz der Aufrechten«, zusammengeschlossen hätten und sich nachts in Höhlentrafen. Die Wächter dieser Höhlen waren die »imbunches«, grauenerregende Wesen, die sich von Blut nähren und denen die Hexer alle Knochen brachen und die Augenlider und den After zunähten. Es entsetzt mich immer aufs neue, zu welch grausamen Phantasien die Chilenen neigen…
    Chiloé unterscheidet sich kulturell vom Rest des Landes, und die Menschen dort wachen mit Stolz über ihre Abgeschiedenheit, weshalb sie sich dem Bau einer Brücke widersetzen, die Puerto Montt mit der Hauptinsel verbinden soll. Es ist ein Ort wie kein zweiter, und alle Chilenen und Touristen sollten ihn mindestens einmal besuchen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie dort bleiben. Die Chiloten leben wie vor hundert Jahren von Ackerbau, Fischfang und Lachsverarbeitung. Alle Gebäude sind aus Holz, und im Herzen jedes Hauses brennt Tag und Nacht ein Ofen, auf dem gekocht wird und um dessen Wärme sich die Familie, Freunde und Feinde scharen. Der Geruch dieser Wohnungen im Winter bleibt einem für immer in Erinnerung: duftendes, knisterndes Holz, feuchte Wolle, Suppe im Kessel… Die Chiloten waren die letzten, die sich der Republik beugten, als Chile seine Unabhängigkeit von Spanien erklärte, und 1826 versuchten sie, sich der englischen Krone anzuschließen. Manche sagen auch, bei der Recta Provincia habe es sich nicht um einen Zusammenschluß von Hexern, sondern um eine Parallelregierung gehandelt zu Zeiten, als sich die Inselbewohner weigerten, die Befehlsgewalt der chilenischen Republik anzuerkennen.
    Meine Großmutter Isabel glaubte nicht an Hexen, aber es würde mich nicht wundern, wenn sie bisweilen versucht hätte, auf einem Besen zu reiten, denn sie übte sich ein Leben lang in paranormalen Fähigkeiten und suchte die Verbindung zum Jenseits, was zu jener Zeit in der katholischen Kirche schlecht gelitten war. Irgendwie schaffte es die gute Frau, mysteriöse Kräfte anzulocken, die während ihrer spiritistischenSitzungen den Tisch verrückten. Dieser Tisch steht heute bei mir daheim, nachdem er im Diplomatengepäck meines Stiefvaters mehrere Male um die Welt gereist und in den Jahren des Exils verschollen war. Meine Mutter eroberte ihn durch einen Geniestreich zurück und schickte ihn mir mit dem Flugzeug nach Kalifornien. Es wäre billiger gewesen, einen Elefanten zu verschicken, denn es ist ein schweres spanisches Holzmöbel mit einem mächtigen Fuß aus vier brüllenden Löwen in der Mitte. Es braucht drei Männer, dieses Monstrum anzuheben. Weiß der Himmel, wie meine Großmutter es bewerkstelligte, den Tisch mit

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