Mein erfundenes Land
Gefühle, Intuition. Durch Großmutter lernte ich den magischen Realismus kennen, lange bevor er mit dem sogenannten Boom der lateinamerikanischen Literatur in Mode kam. Das hilft mir bei der Arbeit, denn bei jedem neuen Buch folge ich dem Grundsatz, mit dem sie ihre Sitzungen leitete: Ich locke die Geister sanft herbei, damit sie mir ihr Leben erzählen. Literarische Figuren sind so fragile und scheue Wesen wie die Gesichte meiner Großmutter; man muß sie mit Fingerspitzengefühl behandeln, damit sie sich auf den Buchseiten heimisch fühlen.
Durch Geistwesen, Tische, die sich von selbst bewegen, wundertätige Heilige und Teufel mit grünen Hufen in öffentlichen Verkehrsmitteln wird das Leben und Sterben interessanter. Für unerlöste Seelen sind Grenzen nicht vonBelang. Ich habe einen Freund in Chile, der nachts wach wird, weil ihn ein paar großgewachsene und hagere Afrikaner besuchen, die Umhänge tragen und mit Speeren bewaffnet sind und die außer ihm niemand sehen kann. Seine Frau, die bei ihm liegt, hat die Afrikaner nie zu Gesicht bekommen, dafür aber zwei englische Damen aus dem 19. Jahrhundert, die durch geschlossene Türen gehen. Und eine andere Freundin, in deren Haus in Santiago unvermittelt Lampen von der Decke fielen und Stühle umkippten, entdeckte den Grund in den Gebeinen eines dänischen Geographen, den man zusammen mit seinen Karten und seinem Notizheft in ihrem Patio exhumierte. Wie war der Ärmste nur dort hingeraten? Das wird sein Geheimnis bleiben, aber jedenfalls verschwand der unglückliche Geograph nach mehreren Novenen und dem Lesen einiger Messen. Wahrscheinlich war er zu Lebzeiten Calvinist oder Lutheraner gewesen und mochte die papistischen Riten nicht.
Für meine Großmutter war der Raum bevölkert von Wesen, und die Toten mischten sich unter die Lebenden. Das ist eine wunderbare Vorstellung, und so haben mein Mann und ich in Kalifornien ein großes Haus mit hohen Zimmern, Holzbalken und Rundbögen gebaut, das Gespenster aus verschiedenen Epochen und Breiten einlädt, vor allem die aus dem Süden. Im Versuch, das große Haus meiner Urgroßeltern neu erstehen zu lassen, haben wir unseres mit Entschlossenheit und einigem Aufwand malträtiert, haben mit dem Hammer auf Türen eingeschlagen, Farbe an die Wände gekleckst, die Eisengitter mit Säure zum Rosten gebracht und die Büsche im Garten gerupft. Das Ergebnis kann sich sehen lassen; mehr als eine Seele, die nicht ganz bei der Sache ist, wird wohl von seinem äußeren Schein hinters Licht geführt und findet bei uns ein Zuhause. Die Nachbarn beobachteten mit offenstehenden Mündern, wie wir uns mühten, dem Haus ein paar Jahrhunderte aufzuhalsen, und konnten nicht begreifen, weshalb wir ein neues Haus bauten, wennwir ein altes wollten. Aber in Kalifornien wurde eben nie im chilenischen Kolonialstil gebaut, und wirklich alt ist dort gar nichts. Man darf nicht vergessen, daß San Francisco vor 1849 nicht existierte, an seiner Stelle gab es nur ein Dorf mit Namen Yerba Buena, in dem eine Handvoll Mexikaner und Mormonen wohnten, und außer ein paar Pelzhändlern kam nie jemand vorbei. Erst der Goldrausch brachte die Massen. Ein Haus wie das unsere ist in diesen Gefilden eine historische Unmöglichkeit.
Landschaft der Kindheit
Was eine typische chilenische Familie ist, läßt sich schwer sagen, doch darf ich mit Fug und Recht behaupten, daß meine keine war. Und ich war nach dem Kodex des Milieus, in dem ich aufwuchs, keine typische junge Dame. Aus der Art geschlagen eben. Am besten erzähle ich ein wenig aus meiner Kindheit, vielleicht erhellt das ja einige Aspekte der Gesellschaft meines Landes, die zu jener Zeit erheblich intoleranter war als heute, und das will etwas heißen. Der Zweite Weltkrieg war ein Beben, das die Welt als ganze erschütterte und alles veränderte, angefangen bei der Geopolitik und den Wissenschaften bis hin zu den Alltagsgewohnheiten, der Kultur und Kunst. In Windeseile fegten neue Ideen jene hinweg, auf die sich die Gesellschaft jahrhundertelang gestützt hatte, aber es brauchte Zeit, bis die Neuerungen zwei Weltmeere überquert oder den unwegsamen Wall der Anden passiert hatten. In Chile kam alles mit etlichen Jahren Verspätung an.
Meine hellsichtige Großmutter starb unerwartet an Leukämie. Sie kämpfte nicht darum, zu leben, sondern überließ sich freudig dem Tod, denn sie war sehr neugierig auf den Himmel. Während ihres Aufenthalts auf Erden hatte sie das Glück, daß ihr Mann sie liebte und
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