Mein erfundenes Land
was wir etwa mit Narziß und Goldmund gemeinsam haben sollten.) In Großvaters Bibliothek stieß ich auf eine Sammlung russischer Romane und auf sämtliche Bücher von Henri Troyat, der dicke Familiensagas über das Leben in Rußland vor und während der Revolution geschrieben hat. Ich habe sie wieder und wieder gelesen und Jahre später meinen Sohn Nicolás genannt, nach einer Figur bei Troyat, einem jungen Bauern, strahlend wie die Sonne am Mittag, der sich in die Frau seines Lehnsherrn verliebt und sein Leben für sie hingibt. Die Geschichte ist so romantisch, daß ich noch jetzt bei der Erinnerung daran in Tränen zerfließen könnte. So waren und sind meine liebsten Bücher: Figuren voller Leidenschaft, edle Beweggründe, kühne und mutige Taten, Idealismus, Abenteuer und, wenn möglich, ferne Weltgegenden mit fürchterlichem Klima wie Sibirien oder irgendeine afrikanische Wüste, also Orte, an die ich nie und nimmer zu reisen gedenke. Zephirumwehte Inseln, die einen im Urlaub erfreuen, sind in der Literatur ein Unding.
Ich schrieb täglich an meine Mutter in der Türkei. Die Briefe brauchten zwei Monate, aber das hinderte uns nicht, weil wir beide eine Schwäche für das Genre des Briefs hegen: Wir haben uns fünfundvierzig Jahre lang fast jeden Tag geschrieben und einander versprochen, daß beim Tod der einen die andere den Berg der gesammelten Briefe vernichtet. Ohne diese Garantie könnten wir nicht befreit schreiben; ich möchte mir das Drama nicht ausmalen, sollten dieseBriefe, in denen wir kein gutes Haar an unseren Verwandten und dem Rest der Welt lassen, je in indiskrete Hände fallen.
Ich erinnere mich der Winter meiner Jugend, wenn der Regen den Hof überflutete und sich das Wasser unter der Tür in mein Häuschen drückte, wenn der Wind damit drohte, das Dach zu rauben, und Blitze und Donner die Welt erschütterten. Hätte ich mich den ganzen Winter dort einschließen und lesen können, ich wäre wunschlos glücklich gewesen, aber nein, ich mußte zur Schule. Ich haßte es, abgehetzt und angespannt auf den Bus zu warten und dabei nie zu wissen, ob ich unter den Glücklichen sein würde, die es schafften, ihn zu entern, oder unter den Geschlagenen, die zurückblieben und auf den nächsten warten mußten. Die Stadt war gewachsen und von einem Punkt zum anderen zu kommen schwierig; einen Bus – »Micro« – zu nehmen war etwas für Leute mit selbstquälerischen Tendenzen. Man stand da, manchmal im Regen und mit den Füßen in einer Schlammpfütze, unter zwei Dutzend anderen, die genauso verzweifelt waren wie man selbst, wartete stundenlang, und wenn das Gefährt schließlich hustend und Rußwolken ausstoßend herannahte, mußte man wie eine Ziege hochspringen, um sich an einer Haltestange oder den Kleidern anderer Fahrgäste festzuklammern, denen es gelungen war, die Füße in die Tritte der offenen Tür zu stellen. Das hat sich natürlich geändert. Vierzig Jahre sind seither vergangen, und Santiago ist eine völlig andere Stadt geworden. Heute sind die Micros schnell, modern und zahlreich. Ärgerlich ist nur, daß die Fahrer alles daransetzen, als erste an der Haltestelle zu sein und möglichst viele Fahrgäste einzufangen, weshalb sie ohne Rücksicht auf Verluste durch die Straßen jagen. Schulkinder sind ihnen ein Dorn im Auge, weil sie weniger zahlen, und alte Leute brauchen ihnen zu lange zum Ein- und Aussteigen, also machen sie nach Möglichkeit einen Bogen um sie. Wer das Temperament der Chilenen kennenlernen möchte, der sollte in Santiago öffentliche Verkehrsmittel benutzenund mit dem Bus über Land fahren, das ist sehr aufschlußreich. In die Micros steigen blinde Sänger ein, Verkäufer von Nadeln, Kalendern, Heiligenbildchen und Blumen, auch Zauberer, Jongleure, Diebe, Verrückte und Bettler. Auf der Straße wirken die Chilenen häufig schlechtgelaunt und vermeiden Blickkontakte, doch in den Micros rücken sie zusammen und legen eine menschliche Hilfsbereitschaft an den Tag, wie man sie sich in den Luftschutzräumen von London während des Zweiten Weltkriegs vorstellt.
Nur noch ein Wort zum Verkehr: Die Chilenen, die von Angesicht zu Angesicht so zurückhaltend und höflich sind, werden zu Wilden, sobald sie ein Lenkrad zwischen die Finger kriegen, liefern sich Rennen darum, wer als erster an der nächsten roten Ampel ist, schlängeln sich von einer Spur auf die andere, ohne den Blinker zu setzen, brüllen sich an und machen wüste Gesten. Die meisten unserer Beschimpfungen enden auf
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