Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreibt, aufzunehmen, halte ich für dummes Zeug.
FISCHER:
Bei der Ukraine geht es gegenwärtig um ein Assoziierungsabkommen, das heißt um erleichterten Zugang zum gemeinsamen Markt. Entscheidend für mich ist, dass die postsowjetische Ordnung in Europa bestehen bleibt. Und dabei spielt die Unabhängigkeit der Ukraine eine zentrale Rolle. Ich glaube nicht, dass jetzt oder in absehbarer Zeit eine Entscheidung ansteht über die EU -Mitgliedschaft der Ukraine. Was Putin aber forciert, ist ihre Mitgliedschaft in der Eurasischen Union, und das würde die unabhängige Position der Ukraine erschüttern. Ich denke, wir Europäer haben jedes Interesse zu begreifen, dass die Unabhängigkeit der Ukraine die postsowjetische Ordnung stabilisiert. Nirgendwo wird das so gut verstanden wie in Polen.
DIE ZEIT:
Das heißt, die Europäische Union hat ihre Grenzen erreicht. Was ist mit den Balkanstaaten?
FISCHER:
Ich bin der Meinung, dass man die Politik, die man auf dem Balkan begonnen hat, langfristig weiterführen muss, und zwar mit vollem Engagement. Man darf dort nicht den Eindruck entstehen lassen, die wollen uns gar nicht. Man mag über die Türkei und die Ukraine streiten, ob sie zu Europa gehören oder nicht, aber dass der Balkan Europa ist, und zwar ein ganz schwieriger Teil von Europa und mit großen Risiken behaftet, das werden die Europäer nicht vergessen dürfen. Für Frieden und Stabilität in dieser Region ist die Beitrittsperspektive nicht zu unterschätzen, und dazu zählt auch, Serbien die Möglichkeit einer Öffnung zu geben – das halte ich für dringend geboten.
DIE ZEIT:
Wir haben die globalen Veränderungen, denen die Europäische Union seit Mitte der neunziger Jahre ausgesetzt ist, bisher nur gestreift. Dieser Themenkomplex lässt sich in der Frage zuspitzen: Welche Rolle spielt die Europäische Union zwischen den beiden Blöcken USA und China? Schafft sie es als dritte Kraft auf Dauer zu reüssieren, oder droht uns der Abstieg?
SCHMIDT:
Da möchte ich noch etwas loswerden, was ich vorhin versäumt habe zu erwähnen, als wir über die demographische Explosion im 20 . Jahrhundert sprachen. Ich meine die weltweite Verstädterung. Heute vor fünfzig Jahren waren Manila oder Shanghai Städte mit einer Bevölkerung im einstelligen Millionenbereich. Heute sind es in Manila über zwanzig Millionen, in Shanghai fast genau so viele. Noch mehr Menschen haben Sie in Mumbai, in São Paulo oder in Mexiko City – allesamt riesenhafte Städte. Noch vor einem halben Jahrhundert hat die Masse der Menschheit mehr oder minder in Hütten oder kleinen Häusern gewohnt. Das ist lang vorbei. Am besten illustriert sieht man das in China, wo am Reißbrett Megastädte für dreißig Millionen Menschen entstehen; die Mehrheit der Bevölkerung wohnt dort inzwischen in Städten, und zwar nicht in Hütten, sondern in vielen Stockwerken übereinander. Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt heutzutage in Städten, und diese Verstädterung bringt mit sich das Problem der Regierbarkeit. Die Verführbarkeit der Massen durch elektronische Medien hat ein Ausmaß erreicht, das zur Zeit der Dörfer und der Hütten unvorstellbar gewesen ist. Jeder hat heutzutage theoretisch die Möglichkeit, politisch Stimmung zu machen und einen Einfluss zu nehmen, der weit über das hinausgeht, was vor sechzig oder siebzig Jahren der damalige Chefredakteur der
Zeit
sich vorstellen konnte. Was wir heute in Amerika erleben, nämlich die Funktionsunfähigkeit der Verfassung gegenüber dem Kongress, hätte sich ein amerikanischer Präsident vor dreißig Jahren auch nicht vorstellen können.
FISCHER:
Dieser Beschreibung kann man nur zustimmen. Das heißt aber, dass die Probleme von morgen auch eine ganz andere ökologische Dimension haben, denn die Verstädterung treibt natürlich auch den spezifischen Pro-Kopf-Verbrauch von nahezu allen Ressourcen in eine ganz andere Dimension. Ich bin dreißig Jahre jünger als Sie, aber auch meine Kindheit ist nicht durch tägliches Duschen bestimmt gewesen, sondern man wurde von der Mutter in einen Waschzuber gestellt, abgeseift und abgewaschen, abgetrocknet, und das war’s. Einmal in der Woche oder einmal in vierzehn Tagen gab es ein Wannenbad, das teuer war, also gingen alle Kinder der Reihe nach durch. Nichts mit täglicher Dusche, nichts mit Spülmaschine oder Waschmaschine. Wenn nun der spezifische Pro-Kopf-Verbrauch an Energie, an Wasser, an allem, was
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