Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
im militärischen Bereich zulässt; da könnte man sicherheits- und außenpolitisch ansetzen. Ich sehe keine Vertragsänderung, da stimme ich Ihnen völlig zu, Herr Schmidt, aber es muss vorangehen. Gerade jetzt, bedingt durch die Krise, hat eine Neuverteilung der Aufgaben in der Europäischen Union stattgefunden, und dabei hat sich faktisch die Eurogruppe als Avantgarde herausgebildet. Die EU von 2009 war eine andere als die, die sie heute ist; denken Sie nur an die überragende Rolle Draghis und der EZB , die faktisch Regierungsaufgaben mit übernommen haben. Es gibt viele gravierende Veränderungen, die im Rahmen der existierenden Verträge eingetreten sind, und das finde ich eine sehr spannende Entwicklung.
DIE ZEIT:
Sind solche Veränderungen
de facto
auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik denkbar?
FISCHER:
Ich sehe eine große Chance darin liegen, die aber nicht genutzt wird, weil sich Deutschland zurückgezogen hat auf eine Rolle, die weder mit London noch mit Paris eine engere Zusammenarbeit zulässt. Und Amerika ist mittlerweile offensichtlich egal, ob die Europäer zu einer gemeinsamen Haltung finden oder nicht.
DIE ZEIT:
Waren wir in der Außenpolitik, gerade in Ihrer Zeit, nicht schon mal weiter? Wir haben Verantwortung auf dem Balkan übernommen, wir haben uns an dem Einsatz in Afghanistan beteiligt. Die Bundeskanzlerin und der noch amtierende Außenminister scheinen zu gar nichts mehr bereit, im Augenblick spielt Deutschland außen- und sicherheitspolitisch eine so passive Rolle wie zu Genschers Zeiten. Woran liegt das?
SCHMIDT:
Woran das liegt, ist eindeutig. Es sind zu viele Leute in der EU , die rumquatschen, aber zu wenige Leute, die wissen, wovon sie reden. Ein handlungsfähiger Verein von 28 gleichberechtigten Mitgliedern ist eine Unmöglichkeit. Die Kompetenz, neue Mitglieder aufzunehmen, lag und liegt bei der Kommission, und die hat davon phantastischen Gebrauch gemacht und den Verein über Nacht mehr als verdoppelt. Die Kommission ist zuständig für alle Aufgaben der Währungsunion und gleichzeitig für die Aufgaben der Europäischen Union, das sind beinahe doppelt so viele. Ich hab in Erkenntnis dieser Tatsache neulich zu Martin Schulz gesagt, ich möchte mir einen Putsch des Europäischen Parlaments wünschen.
FISCHER:
Das europäische Parlament ist nicht »putschfähig«, Herr Schmidt. Was Ihre Kritik an der zu schnellen Erweiterung der EU angeht, sehe ich das etwas anders. Wie war die Lage nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht? Für die Osteuropäer gab es eine klare Ansage: rein in die Nato, rein in die EU . Das war der neue Stabilitätsrahmen. Ich sehe nicht, dass eine kleine Erweiterung möglich gewesen wäre. Etwa die Balten draußen zu lassen, hätte eine klare Ansage an Russland bedeutet: So ernst ist es uns nicht.
SCHMIDT:
In meinen Augen war es ein Fehler, alle gleichzeitig in die EU und in die Nato aufzunehmen – eine von beiden Mitgliedschaften hätte gereicht.
FISCHER:
Das sehe ich anders. Es waren zwei unterschiedliche Stränge. Der Nato-Beitritt war zuerst; Deutschland hat dabei sehr viel Druck gemacht, Verteidigungsminister Volker Rühe an der Spitze, und dann haben die Amerikaner darauf gedrungen, es auf breiter Grundlage zu machen. Was die EU angeht, so sehe ich nicht, wie das hätte funktionieren sollen, hier eine kleine Gruppe, dann da wieder eine kleine Gruppe; ich sehe nicht, wie die Staats- und Regierungschefs bei ihren unterschiedlichen Interessen da je einen Konsens hätten erzielen können. Im übrigen waren da auch die Interessen Frankreichs und Deutschlands sehr gegensätzlich.
SCHMIDT:
Der Fehler ist in Maastricht gemacht worden, da wurde jedermann eingeladen, Mitglied der EU zu werden, und gleichzeitig wurde jedermann eingeladen, Mitglied des Währungsverbunds zu werden. Das Letztere war falsch, solange man gleichzeitig keine fiskalischen Regeln einführte. Und dann hat man auch noch die Türkei in den Status eines künftigen Mitglieds der EU gehoben!
FISCHER:
Ja, da war ich sehr dafür, weil ich der Meinung bin, dass wir jedes strategische Interesse an der Modernisierung der Türkei haben; es ging darum, den Modernisierungsschub zu unterstützen, den die Türkei gebraucht hat. Und dazu bedurfte es des Inputs der Europäischen Union insbesondere im Rechtsbereich; die Reform des Rechtssystems der Türkei ist einer der wesentlichen Beiträge, die die Europäische Union geleistet hat. Ob das dann später zur Vollmitgliedschaft
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