Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
dazugehört, die verstädterte Welt von morgen bestimmt, werden die Probleme enorm wachsen. Wenn man den Schweinefleisch-Verbrauch der Deutschen auf China umrechnet, steht man vor der Frage der Machbarkeit. Dennoch werden sich alle Nationen in exakt die Richtung entwickeln, die Sie gerade beschrieben haben.
Zu der Ausgangsfrage, welche Rolle Europa zwischen Amerika und China spielen wird: Was mir auffällt ist, dass unter dem Gesichtspunkt der Kreativität, was die Entwicklung von Neuem sowohl im zivilen, im kulturellen als auch im militärischen Bereich angeht, Amerika fast überall noch immer ein Monopol hat. Ob das Drohnen sind, der Übergang zu einer nicht mehr bemannten Luftstreitmacht, ob es die Unterhaltungselektronik ist, ob es die großen IT -Netzwerke sind, ob es Hollywood ist, ob es Suchmaschinen sind, was auch immer: Alles ist eine Erfindung Amerikas, die USA sind nach wie vor der Schrittmacher, und wenn sie diese Rolle halten können, werden sie nur schwer abzulösen sein. Ich sehe nicht, dass China oder Indien unter dem Gesichtspunkt der Kreativität schnell werden aufholen können; sie können nachahmen, aber ob sie in der Lage sind, selbst die zivilisatorischen Vorgaben zu machen, das bezweifle ich. Die Frage wird sein, was dabei aus uns Europäern wird.
DIE ZEIT:
Aber eines wollen die Amerikaner immer weniger sein: die Weltordnungsmacht oder der Weltpolizist. Nach zehn Jahren Krieg ist Amerika diese Rolle herzlich leid.
FISCHER:
Und was ist die Alternative? Die Alternative wäre: keine Ordnungsmacht. Das erleben wir gerade im Nahen Osten. Lassen Sie mich eine provokante Frage stellen: Kann China seinen gewaltigen Ressourcenbedarf militärisch selbst sichern? Ich sage nein. China ist nicht in der Lage, seine Hauptschifffahrtswege offen zu halten, noch längere Zeit nicht. Wer tut das? Die US Navy! Das ist heute die Realität.
SCHMIDT:
Ich will mal in die Geschichte zurückgehen. Heute vor über zweihundert Jahren hat Malthus die Welt beglückt mit der Theorie, dass wir irgendwann an die Grenze der Ernährung stoßen werden. Damals lebten auf der Erde weniger als eine Milliarde Menschen, inzwischen sind wir sieben Milliarden, und die werden fast alle immer noch ernährt, die Chinesen im übrigen besser als damals. Die Ernährung ist nicht das Problem. Das wirklich große Problem sehe ich in der Verführbarkeit städtischer Massen. Dabei fällt mir Gustave Le Bon ein, der vor mehr als hundert Jahren über die Psychologie der Massen geschrieben hat. Und wenn ich das übertrage auf den Zustand der Demokratie heute, dann könnte es sein, dass das 21 . Jahrhundert eine Krise der Demokratie mit sich bringt. Die Demokratie ist eine gute Sache in meinen Augen – so gut, dass ich als alter Mann noch auf die Barrikaden gehen würde, wenn sie verteidigt werden müsste. Andererseits kann ich nicht darüber hinwegsehen, dass die Demokratie eine europäische Erfindung ist – erfunden in Athen, heute vor beinahe zweieinhalbtausend Jahren – und dass sie nur ganz kurze Zeit funktioniert hat. Funktioniert hat die athenische Demokratie deshalb, weil die Athener einen Perikles hatten, einen Führer – oder, wie Joschka Fischer mich jetzt verbessern würde, einen »leader«.
FISCHER:
Ja, da wir jetzt alle Englisch sprechen und es auf Englisch besser klingt.
SCHMIDT:
Im Gegensatz zu Ihnen bin ich zunächst der Meinung, dass die Chinesen etwas im Hinterkopf haben. Die chinesische Zivilisation gibt es seit beinahe viertausend Jahren. Die ältesten chinesischen Schriftzeichen sind knapp viertausend Jahre alt, und sie werden heute noch benutzt, um die chinesischen Zeitungen damit zu füllen. Wenn Sie die Zeitungen lesen wollen, müssen Sie mindestens dreitausend Schriftzeichen einigermaßen beherrschen. Wenn Sie gebildet sein wollen, müssen Sie sechstausend Schriftzeichen kennen, die Gelehrten und Wissenschaftler haben wahrscheinlich zwölftausend Zeichen. Diese Zeichen sind uralt und werden heute genauso gelernt, wie sie früher gelernt worden sind, heute allerdings von der Mehrheit der Chinesen; alle verstehen Mandarin.
DIE ZEIT:
Sie haben eben beide den Begriff Zivilisation verwendet. Sie, Herr Fischer, sprachen von dem zivilisatorischen Fortschritt, der durch die USA gewährleistet wird. Herr Schmidt spricht von der viertausendjährigen Zivilisation der Chinesen, der er auch für die Zukunft enormes Potenzial zutraut. Reden wir also von verschiedenen Dingen, wenn wir von Zivilisation
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