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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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der Zeitung gelesen, die in Rajshahi immer mit einem Tag Verspätung eingetroffen war. Die Stadt wuchs schnell, bald würde man immer weiter draußen bauen müssen. Vielleicht war das ja der Grund, weshalb der Diktator alle Versammlungen von mehr als fünf Personen verboten hatte. Weil die Stadt zu voll war und man sich verteilen mußte.
    Der Besuch auf dem Friedhof war ein altvertrautes Familienritual. Ihre Mutter hatte das Grab ihres Mannes über all die Jahre gepflegt, eine Hecke als Einfassung gepflanzt, den Stein geputzt. Maya wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte; sie war noch nie allein hier gewesen. Sie erinnerte sich an die Gespräche, die ihre Mutter am Grab mit ihrem Mann geführt hatte, ihre Fragen, Entschuldigungen, Sorgen. Maya ging neben dem Grabstein in die Hocke und legte die flache Hand daran. Hallo, abwesender Vater.

    Als Maya zum Bungalow zurückkam, traf sie unten an der Treppe eine Gruppe von Frauen. Auf den ersten Blick sahen sie wie die Frauen vom Vortag aus, aber beim Näherkommen zeigte sich, daß ihre Gesichter unbedeckt waren und sie sehr schnell in einer fremden Sprache miteinander redeten. Maya fragte auf englisch, ob sie etwas für sie tun könne. Ohne sich vorzustellen, kam eine nach der anderen auf sie zu, umarmte sie und küßte sie auf beide Wangen. Die Frauen erklärten in gebrochenem Englisch, sie seien islamische Missionarinnen aus Frankreich.Maya betrachtete sie neugierig. Unter ihren langen Gewändern trugen sie weiche Lederschuhe, auf den Fingernägeln hatten sie einen Hauch von Nagellack, und sie hielten sich unsicher wie Touristinnen an ihren Koffern und Rucksäcken fest. Eine Missionarin hielt ein kleines Papierfähnchen an einem Zahnstocher in der Hand.
    Nach kurzer Diskussion stiegen die Frauen eine nach der anderen die schmale Außentreppe hoch und betraten mit eingezogenem Kopf den Versammlungsraum auf dem Dach. Maya folgte ihnen hinauf. Es war ein rechteckiger Saal, vollgestopft mit Menschen, die Luft war dick und würzig. Eine untersetzte Frau stand vorn und sprach; ihr Gesicht war unbedeckt, aber von einem schwarzen Kopftuch eingerahmt. Sie nickte den Neuankömmlingen zu und fuhr mit ihrer Rede fort. »Unsere Schwester Rehnuma«, sagte sie – Silvis islamischer Name – »ist von uns gegangen. Möge ihre Seele in Frieden ruhen.«
    »Amen«, bekräftigten die Frauen.
    »Aber ihre Arbeit muß weitergehen. Der Mittwochstalim wird weitergeführt. Und die Missionsarbeit unserer Brüder und Schwestern im Ausland wird auch weitergehen. Denkt daran, dieses Leben ist nur ein Tropfen im Ozean der Zeit; das Jenseits ist ewig und jeder Augenblick ein unendliches Zeitalter.«
    Überall im Raum Kopfnicken und zustimmendes Gemurmel.
    »Wir heißen unsere Schwestern aus Frankreich willkommen.« Jetzt wandten sich auch die anderen den Neuankömmlingen zu und begrüßten sie überschwenglich, berührten ihre Gesichter und befühlten das Material ihrer Tschadors. Die Französinnen gingen herum, öffneten ihre Taschen und verteilten Geschenke. Eine Pralinenschachtel wurde herumgereicht. Die Rednerin mischte sich unters Volk, umarmte die Besucherinnen und redete in einer Mischung aus Bengali, Arabisch und Zeichensprache auf sie ein. Dann nahm sie wieder Platz und rezitierte eine Passage auf arabisch, wozu sie anmutige Bewegungen mit ihren rundlichen Händen machte.
    Ich verdrücke mich lieber, bevor mich irgend jemand bemerkt, dachte Maya. Widerstrebend und immer noch voller Neugier verließ sie den Saal. Auf dem Weg die Treppe hinunter stieß sie mit einem kleinen Jungen zusammen, der einen Eimer schleppte. Wasser schwappte auf Mayas Turnschuhe und tränkte den Saum ihrer Pluderhose. »Paß doch auf, du!« sagte sie und drängte sich an ihm vorbei.
    »Hallo!« rief er auf englisch. »Howareyoumadam?«
    »Hallo«, antwortete sie und drehte sich zu ihm um.
    Der Junge musterte sie und lachte laut los, wobei ein Mund voll schiefstehender Zähne sichtbar wurde. Er hatte ungewöhnlich helle Augen, fast grau, und eine fein geschnittene Nase. Alles andere an ihm wies jedoch auf bittere Armut hin: Eine zu kurze Hose, die Art, wie er sich roh mit dem Handrücken die Lippen abwischte.
    »Worüber lachst du?« fragte Maya.
    Er zeigte auf ihre Kleidung und Turnschuhe. »Du siehst lustig aus.«
    Sie wollte ihm gerade zum Abschied zuwinken, da fiel ihr ein, daß er womöglich wußte, wo Sohail war. Wie nannten sie ihn hier? Den Huzur.
    »He, weißt du, wo der Huzur ist?«
    Er zuckte die

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