Mein fremder Bruder
ihn gesehen?«
Ammu legte den Schöpflöffel beiseite und setzte die Samosas auf einen Teller. »Ja, ich weiß. Ich wollte heute morgen mit dir darüber reden.«
»Und?«
»Und«, mischte Sufia sich ein, »da kann man nichts machen. Der Junge läuft völlig verlottert herum, so wollen die das.«
»Aber geht er denn nicht zur Schule?«
»Manchmal lesen sie das heilige Buch mit ihm«, antwortete Ammu.
»Und du läßt das einfach zu?«
Rehana reichte Maya den Teller mit Samosas. Maya bemerkte eine sehr große Müdigkeit in der Geste ihrer Mutter. Sie sah, daß ihre Mutter beschlossen hatte, sich nicht mehr über das aufzuregen, was oben vor sich ging. Sie war nicht mehr die übervorsichtige Mutter von früher, die alles kontrollieren wollte. Wenn Sohail seine Bücher verbrennen wollte, wenn er seine Möbel wegwerfen und die Glühbirnen aus den Fassungen herausdrehen und in ein Loch im Boden pinkeln wollte, dann sollte er das tun. Früher hatte Rehana für ihre Kinder alles aufgegeben. Jetzt befand sie sich auf dem Rückzug und ließ das, was diese zu tun und zu lassen beliebten, über sich ergehen: Sich zu Gott bekehren, von zu Hause weglaufen, die Kinder nicht auf die Schule schicken. Rehanas Kampfgeist war besiegt.
In diesem Augenblick verstand Maya, wieviel länger die langen Jahre für ihre Mutter gewesen waren.
»Der Kleine ist nicht mein Sohn«, sagte Ammu nur. »Und deiner auch nicht. Wir tun, was wir können, aber das dürfen wir dabei nicht vergessen.«
Bei dem Stichwort fiel Maya ein, daß sie etwas anderes vergessen hatte: Den Baum. Sie holte ihn aus Sohails Zimmer und überreichte ihn ihrer Mutter. »Aus Rajshahi«, sagte sie nur, weil sie wußte, daß ihre Mutter sofort verstehen würde, daß es ein wertvolles Mangobäumchen war, das, wenn es den Winter überlebte, die herrlich sauer und köstlich schmeckenden Früchte tragen würde, die man nirgendwo sonst bekam.
Er hieß Muhammad Zaid bin Haque. Ein langer Name für einen kleinen Jungen. Am nächsten Tag behielt Maya die Treppe im Auge, und sobald sie ihn erblickte, rannte sie hinaus und verstellte ihm den Weg. »Zaid, erinnerst du dich an mich?«
Er schüttelte den Kopf, und als er sah, wie traurig ihr Gesicht wurde, sagte er: »Ha ha, reingelegt!«
»Du bist also ein kleiner Witzbold und ein Sprachgenie?«
»Was ist ein Sprachgenie?«
»Jemand, der viele fremde Sprachen spricht. Ich kann auch ein paar Sprachen. Soll ich dir was beibringen?«
Er hielt den leeren Eimer hoch. »Ich muß arbeiten«, sagte er und rannte zum Wasserhahn.
Später klopfte er bei ihr an die Tür. »Hast du Lust, Ludo zu spielen?« fragte er, schlüpfte aus den Sandalen und kam zu ihr ins Zimmer.
»Warum nicht? Hast du ein Brett?«
Er faltete ein Stück Papier auseinander. Jemand hatte unbeholfen ein Ludo-Brett auf das Blatt gezeichnet. Die viereckigen Kästchen bildeten ein Gitter und waren zum Teil mit blauem Stift ausgemalt.
Zaid zog eine Handvoll Steinchen aus der Tasche. »Du kriegst die Weißen«, sagte er. »Ich nehm die Schwarzen.«
»Und wo hast du das Spiel her?«
»Das hat meine Ammu für mich gemacht.«
»Wirklich?« sagte Maya und fragte sich, ob er wohl über seine Mutter sprechen wollte, die seit nicht einmal einer Woche tot war. »Hast du Ludo mit ihr gespielt?«
Er nickte kräftig. »Ja, jeden Tag.«
Zaid holte einen Würfel hervor. »Du fängst an«, sagte Maya.
Sechs. »Chokka!« schrie er und rückte mit dem ersten Stein vor.
»Zaid«, sagte Maya und würfelte eine Drei, »gehst du in die Schule?«
»Nein«, sagte er und blies auf den Würfel. »Aber bald.«
»Wann denn?«
»Nächstes Jahr. Hat Ammu versprochen.«
»Wußtest du, daß man in der Schule eine Uniform tragen muß?«
»Hemd und Hose?«
»Genau, Hemd und Hose.«
Er grinste. »Weiß ich.«
»Vielleicht erlaubt es dein Vater nicht.«
Er würfelte eine Vier. »Ich hab dich rausgeschmissen!«
»Ich glaube, du hast ein Feld übersprungen.«
»Nein, das war eine Vier.« Er zog noch einmal zurück. »Guck. Eins – zwei – drei – vier.«
Sie war sich ziemlich sicher, daß er fünf Kästchen hinter ihr gewesen war. Aber sie ließ es durchgehen und verlor schnell gegen ihn. Sobald das Spiel vorbei war, faltete er das Papier zusammen, klemmte es unter den Arm, wie ein Landvermesser seine Karte, und war verschwunden.
Zaid war mal hier, mal da. Manchmal fand Maya ihn im Blumenbeet, wo er im Unkraut hockte und Insekten aus den Blüten pickte. Sein Bengalisch war
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