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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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ungehobelt, die Konsonanten verschluckte er. Und er sah schlimm aus. An mehreren Stellen hatte er einen Hautausschlag, an dem er kratzte, bis es blutete. An einem Unterarm war eine Reihe kleiner Einkerbungen, und in jeder Falte und jeder Beuge seines kleinen Körpers saß Schmutz. Er war sechs, sah aber aus wie vier, seine Hand- und Fußgelenke waren schmal und zerbrechlich. Er trug immer dieselben hellblauen Kurtas, die entweder zu lang oder zu kurz waren, und aufdem Kopf eine Gebetskappe, die er immer zurückschob, so daß sie ihm wie ein Krönchen auf dem Kopf saß.

    *

    Maya verließ das Haus nur ungern. Morgens drehte sie eine Runde um den See, und wenn Ammu sie darum bat, ging sie zu dem kleinen Laden am Ende der Straße und kaufte ein paar Sachen. Sie hatte Nazia schon dreimal geschrieben und sie eindringlich gebeten, sich zu melden, hatte angeboten, ihr Geld zu schicken, falls sie etwas brauchte. Sie hatte einmal angerufen, beim Postamt im Dorf, und die Nachricht hinterlassen, daß sie drei Tage später genau zur selben Uhrzeit wieder anrufen würde. Der Postbeamte sagte drei Tage später, er habe die Nachricht weitergegeben, aber niemand sei gekommen, um ihren Anruf entgegenzunehmen.
    In der nächsten Woche rief sie wieder an. Der Beamte war höflich. Er wisse nicht, ob Nazia aus dem Krankenhaus zurück sei. Maya erinnerte sich gut an ihn: Es war derselbe Beamte, der ihr auch das Telegramm gebracht hatte.
    »Geht es dir gut?«
    »Ja, Apa, aber meine Tochter ist krank.«
    Warum freute sie das? Weil die Dorfbewohner jetzt krank wurden, jetzt, wo sie nicht mehr da war, um sie zu behandeln? »Richte ihr bitte aus, daß ich angerufen habe«, sagte sie forsch, damit er nicht hörte, wie ihre Stimme zitterte.
    »Ich richte es ihr aus, Apa.«
    »Danke schön.«
    »Die Joldugi werden dieses Jahr süß, Apa.«
    Er meinte damit: Sie würde die Ananas vermissen und vielleicht die Ananas auch sie.

    *

    »Zaid, ich gehe zum Gemüsemann. Willst du mitkommen?«
    »Warte«, sagte er und streckte ihr eine Hand entgegen. Er sprang die Treppe hinauf und kam wenige Minuten später mit einem zerknüllten Stückchen Papier zurück.
    Maya nahm es ihm weg. »Laß mich mal sehen.«
    Eine Einkaufsliste von oben.
    Okra, stand darauf. Kartoffeln. Ein Kürbis.
    Sie gingen zusammen die Straße entlang. »Wo sind deine Schuhe?«
    Er zuckte die Achseln. »Weiß nicht.« Er hüpfte leicht über das heiße Pflaster. Sie schob ihn in Richtung Schatten. Als sie um die Ecke bogen, kamen sie zu einem großen Gebäude mit offenen Fenstern.
    Zweimal zwei ist vier, dreimal zwei ist sechs, viermal zwei ist acht.
    Zaid blieb, den Einkaufszettel in der Hand, wie angewurzelt stehen.
    Am Eingangstor stand: AHSANULLAH MEMORIAL BOYS SCHOOL .
    »Hast du die Schule schon mal gesehen?« Sie drehte sich fragend zu ihm um, aber er war verschwunden. Einen Augenblick später tauchte er hinter dem Tor wieder auf und spähte zu einem der Fenster hinein. Er zog sich das Käppi vom Kopf.
    »Gleich sieht dich jemand!« rief sie ihm hinterher, als er um das Gebäude herumlief. »Komm wieder zurück!«
    Doch er war schon verschwunden. Maya wartete fünf, zehn Minuten. Dann hörte sie es pfeifen und bog um die Ecke, da stand er und wartete auf sie. Er war die hohe Mauer hinter dem Schulgebäude hochgeklettert und hatte sich von oben zurück auf den Bürgersteig fallen lassen. Sein ganzes Hemd war voll orangebraunen Staubs. Er zog das Käppi unter der Achsel hervor und setzte es sich wieder auf. »Komm schon«, sagte er, »wir müssen uns beeilen.«
    Der Gemüsemann wog die Okraschoten und die Kartoffeln ab, dann holte er den Kürbis. Geld wollte er nicht haben; dieLeute von oben durften anschreiben lassen. »Sag dem Huzur, er soll für mich beten«, sagte er.

1984
März
    Am Unabhängigkeitstag schaltete Maya den Fernseher an und sah den Diktator, wie er am Shahid Minar, dem Denkmal der Märtyrer, Kränze niederlegte. Er hatte einen kleinen Kopf und breite, von militärischen Abzeichen geschmückte Schultern. Im Vormonat hatte er versucht, das Land in Islamische Republik Bangladesch umzubenennen. Davor hatte er zwei Rolls-Royce gekauft, einen für sich und einen für seine Mätresse.
    Jetzt, am Jahrestag des Einfalls der pakistanischen Armee, dem Tag, an dem sie mit ihren Panzern Dhaka niedergewalzt hatte, hielt er eine Rede über den Krieg. Weil er sich beim früheren Feind einschmeicheln wollte, sagte er nichts über die Massenmorde. Er pries die Bedeutung der

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