Mein fremder Bruder
Mutter vorgestellt, wenn diese sich fragte, ob das Schweigen endlos dauern würde, und sie wünschte sich, sie hätte den Brief nie abgeschickt. Doch als Ammus Antwortbrief dann endlich kam, war er voller Neuigkeiten von den Veränderungen am Haus, den Nachbarn, dem Garten. Sie verriet keinerlei Ärger, aber sie bat Maya auch nicht, heimzukehren. Und so korrespondierten sie miteinander, tauschten langatmige Höflichkeiten aus, lange Absätze über das Wetter, erzählten einander alles und nichts.
Der Huzur predigte weiter. Die Frauen schwankten im Rhythmus der Worte vor und zurück. Maya kam der Gedanke, daß es ähnlich zugegangen sein mußte, als ihr Vater gestorben war, Männer in weißen Käppchen, Rosenwasserduft im Haus. Sie sah schnell zu ihrer Mutter hinüber. Ammu wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht. Sie sah aus wie immer.
Der Huzur sprach jetzt von Silvi. Wie gläubig sie gewesensei, wie gut. Wie fromm. Maya saß zwischen den Trauergästen, von denen keiner weinte, weil man als Muslim sittsam zu trauern hat, und fragte sich, wie sie so lange hatte wegbleiben können – von diesem Haus und dieser Stadt und dieser Mutter und diesem Bruder. Und auch wenn sie ihr Exil selbst gewählt hatte, schien sich jetzt bereits eine dicke Haut darüber gebildet zu haben. Es war ihr jetzt schon ein völliges Rätsel. Hinter dem Vorhang standen ihr gerade verwitweter Bruder und sein Sohn Zaid. Sie stellte sich das Wiedersehen mit ihm vor, was für einen dichten Bart er haben mußte, und erinnerte sich daran, wie sehr sie ihn früher geliebt hatte, wie stark das Bedürfnis gewesen war, daß er wie sie sein sollte, wie sie sich von ihm abgewandt hatte, als er Gott gefunden hatte, wie sehr sie es ihm persönlich übelgenommen hatte, als hätte er es nur getan, um sie vor den Kopf zu stoßen.
Als Ammu beim Abschlußgebet die Augen schloß, betrachtete Maya sie eingehender. Vielleicht sah sie doch ein wenig gealtert aus. Tiefe dunkle Ringe unter den Augen, eine Falte auf der Stirn. Doch erst als alle Amen gesagt hatten und ihre Mutter sich wieder mit tränennassen Wangen zu ihr umdrehte und sie anlächelte, sah Maya, daß einer ihrer Backenzähne fehlte. Da nahmen all die Jahre Form an – die Form dieses Backenzahns, eine leere Stelle.
Maya hatte Nazia von dem Schlamm an der Wand und dem Lachen erzählt. Nazia war empört. »Diese Verbrecher«, sagte sie und fächelte sich Luft zu. »Wenn das jetzt ein Junge wird, dann schließe ich ihn zu Hause ein und lass’ ihn nur zur Schule raus.«
Es war so heiß wie noch nie. Niemand konnte sich erinnern, daß ein Sari je so schnell auf der Wäscheleine getrocknet war, die Chilis noch auf dem Feld zu Hülsen eingeschrumpft waren. Der Teich war bereits kleiner geworden, und es hieß, daß die Mangoernte gefährdet war. »Ich weiß«, sagte Maya. »Laß uns schwimmen gehen. Es ist so heiß, ich dreh noch durch.«
»Wirklich? Dürfen wir das?«
Zögern. Es gab Regeln, was schwangere Frauen tun, wo sie baden durften, aber Maya wischte das alles beiseite: Niemand glaubte noch an so etwas. Sie hielt den Frauen jetzt seit Jahren Vorträge, über Wissenschaft und Aberglauben und ihre Rechte. »Warum nicht?« sagte sie zu Nazia. Später dachte sie wieder daran, an das kurze Zögern, bevor sie ja gesagt hatte, aber an dem Tag konnte sie nur an eins denken, und das war das Wasser, das kühle grüne Naß, das die Folterqualen der Hitze etwas lindern würde.
Sie saßen auf der Treppe, die hinunter zum Teich führte, die Füße im Wasser. Nazia ging ganz hinein und tauchte den Kopf unter. »Subhan allah!« rief sie aus, »gepriesen sei Gott für das Wasser!«
»Wenn meine Frau sich die Füße kühlen möchte«, erklärte Masud, »dann kann niemand sie davon abhalten.«
Die Männer des Dorfes hatten sich kopfschüttelnd bei ihm vorm Haus eingefunden. Eine schwangere Frau im Teich? Das war zuviel.
Sie hockten eng um das Kochfeuer an jenem Abend, Maya und Nazia, und fachten die Glut der kleinen glimmenden Holzstücke an, bis die Flammen über den Topf schlugen.
»Was für ein Aufstand«, sagte Nazia. »Angeblich wird eine Versammlung abgehalten.«
»Kümmere dich gar nicht darum«, antwortete Maya. »Was zählt, ist doch, daß Masud ein guter Mann ist. Die anderen geben schon irgendwann wieder Ruhe.« Sie sagte ihrer Freundin nichts davon, daß sie die Jungen wieder vor ihrem Fenster gehört hatte. Seitdem schlief sie bei geschlossenen Fenstern, und die stehende
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