Mein fremder Bruder
wandte sie sich jetzt, weil sie sicher war, daß sie ihre Mutter über den Herd gebeugt oder beim Abwasch finden würde.
Statt dessen war die ganze Küche voller Frauen. Sie trugen lange schwarze Burkas und hockten vor dem Mahlstein, dem Spülbecken, dem Herd. Unsicher blieb Maya in der Tür stehen, weil sie einen Augenblick zweifelte, ob sie wirklich im richtigen Haus war. Sie lehnte das Bäumchen an eine Wand und setzte ihre Tasche ab.
»Hallo?«
Eine der Frauen erhob sich, um sie zu begrüßen. Das Gesicht war unter dem losen schwarzen Tuch nicht zu erkennen. »As-salamu ‘alaikum«, sagte sie.
»Wa ‘alaikum as-salam.«
Die Frau faßte nach Mayas Hand. »Wir trauern um unsere Schwester«, sagte sie und wandte sich dann wieder ihrer Aufgabe zu, dem Schälen von Gurken über einer Wasserschale. Maya hatte das Gefühl, als würde sie schon lange dastehen und ihr zusehen. Keine der anderen sprach sie an. Sie nahm ihre Sachen und ging aus der Küche. Wo war Ammu? Sie wollte sie auf der Stelle sehen. Im Badezimmer beugte sich Maya über das Waschbecken und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Sie flocht ihren Zopf neu und bereitete sich auf den Augenblick vor, in dem sie ihre Mutter endlich wiedersehen würde. Als sie aus dem Bad kam, wartete im Flur eine Frau auf sie. »Es geht jetzt los«, sagte sie und führte Maya ins Wohnzimmer.
Die in Burkas gekleideten Frauen waren damit beschäftigt, das Zimmer umzuräumen. Sie schoben das Sofa an die Wand, hoben den Eßtisch hoch und kippten ihn auf die Seite. Ein Bilderrahmen mit dem Foto ihres Vaters wurde umgedreht. Das Aquarell, das Sohail von der siebenjährigen Maya mit gelben und roten Bändern im Haar gemalt hatte, wurde mit einem Kissenüberzug verhängt. Als der Muezzin zum Gebet rief, arbeiteten sie noch schneller, breiteten weiße Laken auf dem Teppich aus, entzündeten Räucherstäbchen und füllten einen langen Silberbehälter mit Rosenwasser. Schließlich hängten sie ein Bettlaken mitten ins Zimmer und unterteilten es so in zwei Hälften.
Maya wurde hinter das Laken ins Zimmer geschoben. »Bitte bedecke deinen Kopf«, sagte die Frau.
Maya hielt sie am Ellbogen fest. »Weißt du, wo meine Mutter ist?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Rehana Haque. Das hier ist ihr Haus.«
Die Frau zog Maya mit festem Griff an sich. »Doa koro, apa«, sagte sie. Bete, Schwester.
Noch konnte sie hinausrennen und nach ihrer Mutter suchen. Vielleicht war sie im Club, oder sie besuchte eine Freundin. Sie konnte auch auf dem Friedhof sein und Blumen auf Abbus Grab legen. Aber jetzt war es schon zu voll im Zimmer, und Maya konnte nicht mehr weg. Immer mehr Frauen erschienen und nahmen jeden Quadratzentimeter Teppich ein. Sie standen Schulter an Schulter und hielten einander an den Händen. Maya wich an die Wand zurück. Sie hörte die Männer hereinschlurfen, die als Schattenfiguren auf dem Laken zu sehen waren, eine Gebetskappe neben der anderen. Ein Mann löste sich von der Gruppe und stellte sich in der Zimmermitte auf. Er räusperte sich und fing mit hoher, nasaler Stimme an: Al-hamdu li-llah rabbi l-alimin, Preis sei Gott, dem Herrn der Welten . Während er das Gebet sprach, sah Maya ihre Mutter zum Vorhang hereinschlüpfen. Ihr stockte der Atem. Sie hätte am liebsten laut losgeschrieen. Sie ruderte mit den Armen. »Ma!« rief sie im Flüsterton. Rehana sah sich suchend um. Der Huzur erhob die Stimme. Ammu richtete den Blick auf Maya und stand einen Augenblick ganz still, nur ihre Hände flatterten in Richtung ihres Gesichts. Maya spürte es in Augen und Kehle brennen. Sieben Jahre vergangen. Dann der Anflug eines Lächelns. Ammu bahnte sich mit ausgebreiteten Armen einen Weg durch die vielen Frauen, und schon tauchte Maya in die Wolke aus Kokosöl in ihrem Haar und Ingwer an ihren Fingern ein. »Wann bist du angekommen?« flüsterte sie. All die Jahre zwischen ihnen eingeschlossen im Bernstein ihrer Stimme.
»Eben gerade. Was ist hier los?«
»Die Trauerfeier für Silvi.«
Natürlich. Silvi war wenige Stunden nach ihrem Tod begraben worden, aber dies war ihre Milad, die Koranrezitationsfeier zu ihrem Gedenken, drei Tage nach dem Tod.
Sieben Monate nach dem Weggang ins selbstauferlegte Exil hatte Maya ihrer Mutter geschrieben. Ich bin Dir nicht böse , hatte sie den Brief begonnen. Aber ich kann nicht nach Hause kommen.
Fast ein Jahr lang hatte Ammu nicht geantwortet. Diese Monate waren Maya endlos vorgekommen. Sie hatte sich die zornigen Worte ihrer
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