Mein fremder Bruder
schon eine Joldugi reif ist, aber sie weiß, daß dies nicht die Jahreszeit dafür ist. Trotzdem ist die Luft süß und voller Bienen, und als sie am Ende des Ackers angekommen ist, läßt sie den Saum ihres Saris sinken und geht weiter, ein Kinderlied vor sich hin summend, das ihr die kleine Maya am Vorabend beigebracht hat. Und dann sieht sie die Versammlung. Ein Dutzend Männer in einem Kreis. Masud steht in der Mitte. »Die Ärztin ist es«, sagt er. »Sie ist schuld an dem ganzen Ärger.«
Maya erwachte im Dunkeln. Sie hatte einen Salwar Kamiz von Ammu an, der an den Ellbogen fadenscheinig war und nach Waschpulver roch. Aus reiner Gewohnheit fühlte sie nach dem Schorf an ihrem Hals. Er war hart und wollte nicht abgehen, als sie an den Rändern kratzte. Sie legte sich die Decke um die Schultern und ging ihre Mutter suchen. Ammu war schon im Bett und kämmte sich gerade mit einem Plastikkamm die Haare.
»Ich dachte, du würdest die ganze Nacht weiterschlafen.«
Maya tauchte unter das Moskitonetz und stieg zu ihrer Mutter ins Bett. »Ich wußte nicht, daß ich so müde war.«
Rehana teilte ihr Haar in der Mitte, zog einen schnurgeraden Scheitel und fing an, eine Seite zu flechten. Das Ritual ließ Maya an all die Morgen vor der Schule zurückdenken, an denen sie zehn Minuten früher als Sohail hatte aufstehen müssen, damit ihre Haare eingeölt, geflochten und mit Schleifen versehen werden konnten. Sie dachte jetzt an ihren Bruder, der immer Hand in Hand mit ihr durchs Schultor gegangen war.
»Erzähl mir von Sohail.« In ihren vielen Briefen hatte Ammu so wenig von ihm berichtet – nur, daß er und Silvi oben ins Haus gezogen waren, daß seine Frau einen Sohn zur Welt gebracht hatte, daß sie die junge Familie fast nie sah, weil sie so beschäftigt mit ihrem Glauben war.
Ammu kämmte weiter ihre Haare durch und fing an zu erzählen. Die Bewegung, der sie angehörten, nannte sich Tablighi Jamaat. Die Gemeinschaft der Verkündigung und Mission . Silvi hatte oben Versammlungen abgehalten und den Frauen beigebracht, was sie als gute Muslime wissen mußten. Über Gott, die Männer und die Moral. Geschlechtertrennung und Sex. Das Leben des Propheten. Seine Frauen, Aischa und Khadija und Zainab. Die Kindererziehung. Wie man sich als Strenggläubige zu verhalten hat. Und Sohail hatte auch seine Gruppe von Anhängern in der Moschee; viele Männer hatten sich unter seiner Anleitung bereits zum Din – dem Glauben – bekehrt. Die brachten dann ihre Freunde und ihre auf Abwege geratenen Söhne mit, und Sohail sagte ihnen, was sie glauben und wie sie leben sollten. Er galt als heiliger Mann.
»Die haben zwanzig oder dreißig Leute da oben wohnen. Tagsüber sind es fast hundert.« Sohail und Silvi waren, schon bald nachdem Maya weggegangen war, oben eingezogen. Angefangen hatten sie mit dem einen gemauerten Raum vorn, dann war eine Außentreppe angebaut worden, damit sie kommen und gehen konnten, ohne Ammu zu stören. Dann waren die Verschläge aus Wellblech, die Toilette, die Küche dazugekommen.
»Woran ist Silvi gestorben?«
»Sie hatte Gelbsucht. Das wurde erst klar, als es schon zu spät war.«
Maya stellte sich vor, wie Silvis Haut gelb geworden war und ihre Augen die Farbe von Eidottern angenommen hatten. »Und Bhaiya?«
»Ihm ist nur das Leben nach dem Tod wichtig.«
»Aber jetzt, ohne Silvi«, sagte Maya, »wird sich ja sicher so einiges ändern.«
»Kann sein«, erwiderte Ammu vage. »Komm, ich kämme dir auch die Haare.«
Maya rutschte näher zu ihrer Mutter hinüber, setzte sich dann aber nicht aufrecht vor sie hin, sondern legte den Kopf in ihren Schoß. Ammu strich ihr mit der Hand über die Stirn. »Ich kann es immer noch nicht richtig glauben«, sagte sie.
Mayas Augen fingen an zu brennen. Worte stiegen in ihrer Kehle auf. Ammu fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar und massierte ihr sanft die Kopfhaut.
»Was ist das denn?« Sie schob die Haare von Mayas Hals weg und starrte ihn an.
»Ach, nichts, nur ein Kratzer.«
»Was, am Hals?«
»Es ist eine lange Geschichte, Ammu.« Maya richtete sich auf und zog die Haare über den Hals.
»Erzähl sie mir.«
Einhundertundein Peitschenhiebe waren die Strafe. Masud kam von der Versammlung zurück und spuckte seiner Frau die Worte ins Gesicht. »Hundertundeinen«, sagte er. »Und das hast du auch verdient.«
Maya trat zwischen Nazia und ihren Mann. »Wofür?«
»Dafür, daß sie mich betrogen hat. Das Kind ist nicht von mir.«
Es ist kein Fluch,
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