Mein grosser Bruder
als ihr Mitspieler auf sein Stichwort nicht erschienen war und sie mutterseelenallein auf der Bühne stand. Damals hatte sie improvisieren müssen, um die Lücke zu überbrücken. Und den zweiten Reinfall erlebte sie, als sie ein Telegramm aus ihrer Tasche nehmen und es in höchster Aufregung dem Schurken des Stückes unter die Augen halten sollte. Sie öffnete die Tasche und merkte, daß sie vergessen hatte, das Telegramm einzustecken.
„Glücklicherweise war es auf einer Tournee, bei der wir am Gepäck sparten“, erzählte Elsa, „ich gebrauchte auf der Bühne meine eigene Tasche. Mich rettete eine alte Rechnung, die ich darin fand. Mir tat ja bloß der Ärmste leid, der das Telegramm vor seine Schurkenaugen gehalten bekam und den erschütternden Inhalt nach dem Text lesen mußte: ,Ein Paar Sportstiefel besohlt, ein Paar Sandalen ausgebessert’.“
Gute Elsa! Ihre kleinen Geschichten lenkten meine Gedanken ein Weilchen von meinen eigenen Problemen ab.
Dann stand ich wieder auf der Bühne, und Torsten machte die übliche idiotische Konversation.
„Kannst du stricken, Vivi? Was möchtest du am wenigsten gern stricken, Halstuch für eine Giraffe oder Socken für einen Tausendfüßler?“
„Pullover für einen Tintenfisch. Bedenke, acht Ärmel stricken zu müssen!“
„Übrigens kannst du sicher gar nicht stricken“, fügte Torsten hinzu.
„Hast du eine Ahnung! Ich, die ich die beste Ausbildung in allen altmodischen weiblichen Künsten habe.“
„Wirklich? Kannst du denn auch kochen?“
„Worauf du dich verlassen kannst! Was ist dein Leibgericht?“
„Beefsteak mit Zwiebeln.“
„Schön. Ich werde dich mal zum Mittag einladen, dann kannst du selbst urteilen.“
„Bist du närrisch? Glaubst du, ich würde es wagen, deinem strengen Bruder unter die Augen zu kommen?“
„Er wird bald verreisen, dann kannst du ja zu mir zu Besuch kommen.“
Torsten sah mich mit einem merkwürdigen Blick an, lange und intensiv.
„Sieh mal an“, sagte er. „Wer hätte das gedacht!“ Und dann erinnerte er sich plötzlich, daß er auf der Bühne stand, er hob das Glas mit dem ekelhaften dünnen Saft und trank mir mit seinem berufsmäßigen „Ein-Herr-der-Gesellschaft“-Lächeln zu.
Elsa war beinahe den ganzen zweiten Akt auf der Bühne. Ich pflegte mich ziemlich rasch umzukleiden, und dann rief ich Torsten, damit er mir half, den Rücken zu schminken, sobald ich meinen Badeanzug anhatte.
Aber an diesem Abend rief ich ihn nicht. Ich verstand selbst nicht, warum. Ich hatte mit einemmal Gewissensbisse, weil ich Torsten zum Mittagessen eingeladen und ihm von Johannes’ Reise erzählt hatte.
Dann kam der dritte Akt, und ich stand in der Kulisse in meinem Nichts von Kostüm, mit dem Ball im Arm. Ich war hübsch geschminkt, und die blutroten Zehennägel guckten aus den Riemchensandalen heraus. Der cremefarbene Tangaslip stand in raffiniertem Kontrast zu meiner braunen Haut.
Das Stichwort fiel, und ich tanzte hinaus ins Rampenlicht und spürte das feine Sausen vom Zuschauerraum, dieses Sausen von Bewegungen, von Menschen, die sich rührten und vorbeugten, um besser zu sehen. Und es war alles zusammen wieder herrlich, ich war hübsch, ich war eine Frau, die gefiel – und ich hatte Lust, noch viel länger auf der Bühne zu bleiben.
Ach ja, ich war nicht nur meines Vaters Tochter und Johannes’ Schwester. Ich war auch Mamileins Tochter.
Zwischen wirklichen Schauspielern und der Masse der Statisten ist eine tiefe Kluft. Die Statisten wagen es kaum, ihre angeklebten Wimpern zu einem Schauspieler zu erheben. Wir, die wir in trägerlosen Abendkleidern herumwanderten und Gräfinnen und Herzoginnen imitierten, waren auf der Probe und außerhalb der Bühne stumme Kreaturen. Ebensowenig wie ein Schauspieler daran denkt, mit einem Stuhl, der auf der Bühne gebraucht wird, ein Gespräch anzuknüpfen, ebensowenig würde er mit einem Statisten sprechen.
Das war mein Eindruck in den ersten Wochen am Theater, und ich glaube nicht, daß er falsch war.
Wenn ich selbst in den inneren Kreis des Theaters kam, jedenfalls mit der einen Zehenspitze, dann war es in erster Linie Elsas Schuld. Als ihre Freundin wurde ich geduldet. Außerdem hatte mich jeder in der berühmten Badeszene bemerken müssen. Und schließlich geschah etwas, unerheblich zwar, aber im Augenblick doch aufregend genug, um meine zweite Zehenspitze in den inneren Kreis zu bringen.
Es war am Anfang des ersten Aktes. Torsten stand da, verzapfte seinen Blödsinn,
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