Mein grosser Bruder
habe eine Abendbeschäftigung.“
„Sieh mal an, sieh an, Sie sind also eine berufstätige Frau?“
„Ja, wenn man das einen Beruf nennen kann, im Hintergrund der Bühne zu stehen und dabei stumm zu bleiben wie eine Auster. Ich habe zu meines Bruders großem Schrecken eine Statistinnenrolle beim Theater angenommen.“
„Nur für dieses eine Stück“, beeilte sich Johannes hinzuzufügen.
„Ja, warum nicht, warum nicht! Ich bin sicher, Sie nehmen sich bezaubernd aus auf der Bühne. Was meinen Sie, Fräulein Semming?“
„Aber sicher. Sie ist die Jüngste und Hübscheste von allen.“
„Passen Sie nur auf sie auf, Kruse! Mit diesem Aussehen! Glauben Sie, daß Sie sich von der Theateratmosphäre losreißen können? Daß Sie nicht für immer den Brettern verfallen?“ Ein Schatten glitt über Johannes’ Gesicht.
„Nie im Leben“, versicherte ich vorsichtshalber schnell, „ich habe nicht das geringste Bühnentalent. Nein, wenn ich nachher etwas anfange, dann wird es wohl ein Abendkurs in Stenografie und Schreibmaschine sein, nicht wahr, Johannes?“
Jetzt wich der Schatten aus seinem Gesicht, und er lächelte mir zu.
„Das wäre keine dumme Idee, Vivi. Wir haben ja schon darüber gesprochen, und ich bin froh, daß du noch an diesem Plan festhältst.“
Elsa sah auf die Uhr.
„Es wird bald Zeit“, sagte sie, „ich muß in einer halben Stunde im Theater sein.“
„Sollen wir uns nicht diese süßen kleinen Mädchen ansehen gehen, Kruse? Darf ich Ihr Telefon benützen? Dann bestelle ich Karten.“
Bentsen wartete nicht auf Antwort. Alles, was er sich vornahm, war gewissermaßen selbstverständlich. Es war selbstverständlich, daß Johannes sich in den Philatelistenverein meldete, weil Bentsen das vorgeschlagen hatte, und es war ebenso selbstverständlich, daß sie ins Theater gingen, auch weil Bentsen es vorgeschlagen hatte.
Elsa und ich gingen eine Stunde vor den anderen aus dem Hause. Unterwegs sprach ich zu Elsa von meiner Angst. Was würde Johannes zu meiner dürftigen Aufmachung sagen?
Elsa borgte mir ein Paar kleine Shorts und ein kleines Etwas für oben. Ich entschuldigte mich nachher beim Regisseur damit, daß an dem Anzug ein Trägerband abgerissen wäre, gerade als ich auftreten wollte, und Elsa zum Glück den Sonnenanzug in ihrer Garderobe gehabt hätte. Was eine glatte Lüge war, denn wir holten ihn bei ihr zu Hause! Ich bekam einen Verweis, in Zukunft hätten meine Kostüme in Ordnung zu sein.
Ich hatte Herzklopfen, als ich Torsten wiedertraf. Als wir im ersten Akt auf der Bühne standen und er mir mit Nilsens skandalös dünnem Saftwasser zutrank, sah er mir in die Augen.
„Du bist hübsch, Vivi, verteufelt hübsch. Du bist seit gestern richtig schön geworden.“
Ich hob mein Glas und merkte, daß meine Hand zitterte.
„War der große Bruder böse? Hat er Gericht gehalten?“
„Ach nein, er nahm es mit Fassung auf. Übrigens ist er heute im Theater.“
„Du, da müssen wir aber aufpassen! Wir dürfen nicht zu persönlich reden, dabei vergessen wir, unsere eminente Schauspielkunst auszuüben. Frau Gräfin, Sie kommen ja direkt aus Paris. Haben Frau Gräfin Ihre entzückende Toilette auf dem Flohmarkt gekauft? Ich kleide mich dort regelmäßig zu Saisonbeginn ein. Sie haben wohl nicht zufällig meine echte unschätzbare Nickeluhr gesehen, die mir kürzlich in der Untergrundbahn gestohlen wurde?“
Nun redete Torsten also wieder Quatsch, und mein Herz schlug so, daß ich dachte, man müßte es durch das Kleid sehen.
Jedenfalls war ich sicher, daß Torsten mein Herzklopfen fühlte, als wir zusammen hinter der Glaswand tanzten. Er mußte es fühlen, so fest, wie er mich an sich drückte.
Dann kamen das Umkleiden, die Pause und die Badestrandszene, und Torsten fing mich wieder auf und folgte mir in die Garderobe, genau wie gestern. Ich war ganz schwindlig vor Glück und Spannung, und mein Körper war wie ein gespannter Bogen, als er mich in seine Arme nahm. Aller Blödsinn und alle burschikosen Redensarten glitten von ihm ab. Zurück blieb ein dreiundzwanzigjähriger Junge mit flammenden dunkelblauen Augen und starken Händen, die mich wie in einem Schraubstock hielten. „Vivi – kleine, wunderbare Vivi…“
Seine Küsse waren heißer als gestern, fester und verlangender. Und ich wußte nicht: war ich glücklich oder war ich bange? Aber plötzlich war alles einfach herrlich, und ich wünschte, ich könnte für immer in seinen Armen bleiben.
Aber anderthalb Stunden
Weitere Kostenlose Bücher