Mein grosser Bruder
später fühlte ich Direktor Bentsens Arme um mich, als wir auf des „Grand Hotels“ spiegelglattem Parkett tanzten. Er und Johannes hatten Elsa und mich abgeholt, und Direktor Bentsen war offenbar aufgelegt, einen langen Abend daraus zu machen.
Nicht um alles in der Welt hätte ich ihm erzählen mögen, daß ich das erste Mal in meinem Leben zu einem richtigen Souper mit Tanz aus war. Alles war mir neu. Ich schwieg und staunte und genoß.
„Kleine Vivi“, flüsterte Direktor Bentsen mir ins Ohr, „kleine, wunderbare Vivi.“
Da fuhr ich zusammen. Es waren die Worte, die Torsten gesagt hatte. Redeten alle Mannsbilder so?
Bentsen konnte doch unmöglich wissen, wie wunderbar ich war! War dies nur eine der gebräuchlichen Floskeln, zu einem jungen Mädchen liebenswürdig zu sein?
„Sehen Sie nicht so erschrocken aus, Fräulein Kruse“, lächelte Bentsen, „ist es so schlimm, daß ich Sie wunderbar finde?“
„Ja, denn ich bin keine Spur wunderbar“, sagte ich. Da lachte er und drückte mich fester an sich. Ich beeilte mich fortzufahren: „Übrigens heiße ich nicht Kruse. Bloß Johannes heißt so. Wir sind Halbgeschwister.“
„So? Das hat Ihr Bruder nicht erwähnt. Und wie heißen Sie denn, Vivi?“
„Fenger.“
„Fenger?“ Bentsen stutzte ein wenig und dachte nach. „Fenger – warten Sie mal, halt, ich habe es. Sie hieß doch Fenger, die kleine Sexbombe damals in Oslo – Ulla Fenger hieß sie. Sind sie verwandt mit Ulla?“
Bentsen hatte durchaus nicht das Recht, meine Mutter beim Vornamen zu nennen. Ich antwortete steif: „Frau Ulla Fenger, wie sie damals hieß, ist meine Mutter.“
„Ihre Mutter? Das ist doch nicht möglich! Da würde sie also auch die Mutter Ihres Bruders sein?“
„Ja, meine Mutter heiratete schon mit achtzehn Jahren. Sie sieht sehr jung aus.“
Die Musik brach ab, Bentsen bot mir den Arm, und wir gingen zu unserem Tisch.
„So – Sie sind also die Tochter von Ulla Fenger“, sagte er nachdenklich und blickte mich lange an. „Donnerwetter!“
Panne auf der Bühne
„Hast du dich gestern gut unterhalten?“ fragte Johannes beim Frühstück.
„Ja, herrlich“, ich lachte ein wenig. „Ist es nicht komisch, Johannes, ich bin bald zwanzig Jahre, und dies war das erste Mal, daß ich richtig aus war, aus zum Tanzen, meine ich. Niemand kann sagen, ich hätte keine ,wohlbehütete’ Jugend gehabt, wie es wohl heißt.“
„Tut dir das leid?“
„Leid? Nein, ich fühle mich bloß etwas rückständig, etwas zu unerfahren für mein Alter.“
Johannes sah mich an, antwortete aber nicht.
Etwas später fragte ich: „Meldest du dich bei diesem Philatelistenverein an?“
„Ja, das ist sicher keine dumme Idee.“
„Ich finde, das ist eine glänzende Idee, Johannes. Es ist Zeit, daß du endlich mal ein bißchen an dich selber denkst. Und jetzt, weißt du, bist du freier. Du kannst ausgehen, wenn du willst, weil du nicht mehr auf Mamilein aufzupassen brauchst.“
Erst als ich es gesagt hatte, ging mir auf, wie komisch das klang.
Und gleichzeitig hörte ich wieder Direktor Bentsen fragen: „Sie sind also die Tochter von Ulla Fenger? Donnerwetter!“ Was hatte er damit gemeint? Ach, lieber Gott, meine Gefühle für Mamilein waren so verworren und unbegreiflich. Ich wollte nicht, daß jemand das Recht hatte, ein böses Wort über sie zu sagen, sie war doch meine Mutter und oft so süß und amüsant, und es gab nichts Böses in ihr.
Und doch mußte ich zugeben, daß etwas an Mamilein war, das die Männer dazu berechtigte, sie lässig beim Vornamen zu nennen und „Donnerwetter“ zu sagen.
Zwischen Johannes und mir bestand ein stillschweigendes Übereinkommen, daß wir untereinander nie ein abfälliges Wort über unsere Mutter sagten.
Nur einmal hatten wir diese Übereinkunft gebrochen, an dem Tag, als wir bei Rolf und Mamilein zum Mittagessen waren. Aber gerade deshalb hatten wir sie seither kaum zwischen uns erwähnt.
Ein schalkhaftes Lächeln flog über Johannes’ Gesicht. „Und auf dich brauche ich nicht aufzupassen, meinst du?“
Ich blickte Johannes gerade an, und meine Stimme war fest und sicher, als ich antwortete: „Ich bin deine Schwester, Johannes. Und die Tochter meines Vaters. Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Auch nicht, wenn du am Theater herumläufst?“
„Hör mal, Johannes, wenn ich Dummheiten machen wollte, würde ich sie sicher machen, ob ich nun beim Theater bin oder nicht. Ich habe dir nie einen Grund gegeben, mir nicht
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