Mein grosser Bruder
Birger auf und versuchte verführerisch zu sein.
Es glückte. Denn als Torsten mich wie gewöhnlich auf der Matratze auffing, fauchte er mich an: „Ha, du, jetzt bist du im richtigen Fahrwasser! Eines schönen Tages springen die Mannsbilder aus dem Zuschauerraum quer übers Orchester und stürzen sich auf dich.“
Ich tat einen kleinen Schrei vor Schreck.
Torsten schob mich in die Garderobe und folgte nach. Er stellte sich mit dem Rücken an die Tür und griff mich um beide Schultern. „Du bist schön, Vivi, verstehst du das? Verdammt schön. Aber du weißt es, du Teufelsmädel. Und du genießt es, schön zu sein. Na, habe ich recht?“
„Torsten – aber Torsten, was ist denn los mit dir? Ich tue doch bloß das, was man mir beigebracht hat.“
„Und du genießt es – gib es zu!“
„Torsten, sage das nicht, du weißt nicht, wie abscheulich, wie gräßlich das ist…“ Mehr konnte ich nicht sagen. Das Gespräch mit Johannes neulich morgens wurde wieder lebendig. Ratlosigkeit, Hilflosigkeit überfielen mich, und dann heulte ich schwarze Schminktränen auf den alten Bademantel.
Torsten war mit einem Male ruhig. Er setzte sich und zog mich auf seine Knie.
„Na, na, Vivi, beruhige dich nur. Sei nicht böse, weil ich heftig gegen dich war. Versuche, einen guten Freund in mir zu sehen! Ja, ich fühle wirklich Freundschaft für dich, Vivi. Also, was quält dich denn? Irgend etwas hast du doch!“
Torstens Stimme war warm und weich. Und ich war so durcheinander und unglücklich, daß ich die gewohnte Selbstbeherrschung zum Thema „Mamilein“ nicht aufbringen konnte. Damit hing ja doch alles zusammen, mit ihr und dem Erbe, das sie mir mitgegeben hatte.
Zum ersten Male in meinem Leben sprach ich mich darüber aus. Ich erzählte Torsten von meiner sonderbaren, schlampigen Kinderstube, von Johannes, der so brav und aufopfernd war, von Mamilein, die sich wieder verheiratet hatte, und von mir selbst, von meinen zwiespältigen Gefühlen, mit denen ich nicht fertig wurde, und von meiner Angst vor gewissen Eigenschaften in mir, die ich bis vor kurzem noch nicht ahnte, dieser merkwürdigen Anziehungskraft, die von mir ausgehen sollte.
Torsten hielt mich ganz fest und ließ mich reden. Als ich endlich mit einem tiefen Schnaufer schloß, strich er mir über den Kopf. „Kleine Vivi“, sagte er. „Wenn du jetzt ehrlich bist, und ich glaube, du bist es, dann bin ich verdammt ungerecht gegen dich gewesen. Ich kann dir jetzt nicht auf alles zusammen antworten, Vivi, aber wenn du auch meinst, was du sagtest, nämlich, daß du mich mal zum Mittagessen einladen willst, dann tue es. Wir können dann lange und ungestört über alles reden. Willst du?“
„Ja, Torsten“, sagte ich. Meine Tränen waren versiegt.
„Ich habe mich geirrt, Vivi!“
Johannes war nach Oslo gefahren, und ich stand mit klopfendem Herzen in der Küche und brutzelte Beefsteaks. Zum ersten Male in meinem Leben sollte ich einen Gast haben, der nur mein Gast war, und zum ersten Male sollte ich einen Nachmittag allein mit einem Mann verbringen.
Ich hatte ein Lampenfieber, wie es eine erfahrene Frau kaum gehabt hätte bei zwölf Gästen und einem Souper mit Suppe, vier Gängen und Nachtisch.
Ich erwartete den Studenten und Statisten Torsten. Mit den Vorbereitungen begann ich um acht Uhr morgens. Ich hatte ihn für fünfzehn Uhr eingeladen.
Das Ergebnis war, daß alles vor Sauberkeit glänzte bis in die hintersten Winkel. Das Wohnzimmer und das Eßzimmer waren piekfein, nichts gab es daran auszusetzen. Auch mein Schlafzimmer schimmerte vor Ordnung und Sauberkeit, und Johannes’ kleine Kammer, die übrigens immer aufgeräumt und ordentlich war, sah schmuck und einladend aus. Von der Küche will ich schon gar nicht reden. Konnte es denn nicht sein, daß Torsten Lust bekam, die ganze Wohnung zu sehen?
Damals war mir nicht ganz klar, warum ich mir so lächerlich viel Mühe gab. Später habe ich es verstanden. Torsten sollte sehen, daß ich nicht nur ein Sexpüppchen war, sondern auch etwas Rechtschaffenes zu leisten verstand, jedenfalls auf einem Gebiet – im Heim. Ich konnte ja nicht mitreden, wenn es um Kunst, Politik oder Literatur ging, leider. Ich hatte – oder habe keine besonderen Talente. Gereist bin ich so gut wie gar nicht, denn das eine Jahr in England, als Haustochter in einer Pastorenfamilie, vermittelte mir nur ein paar Sprachkenntnisse und einige Erfahrungen mit schlechtem Essen: mit warmen Puddings, die wie klitschige
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