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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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zu vertrauen. Warum bist du dann so gräßlich besorgt und ängstlich? Ich bin doch kein Porzellanpüppchen und auch nicht unmoralisch.“
    „Nein, Vivi, nein, das ist es nicht. Aber du… du…“ Johannes suchte nach Worten, und endlich brach es aus ihm heraus, hilflos und ungeschickt: „Du… du… hast so viel Sex, Vivi. Das ist es. Du bist die Tochter deines Vaters, aber auch die Tochter deiner Mutter. Verstehst du das nicht? Verstehst du nicht, daß du gerade deswegen mehr Rückgrat, strengere Moralbegriffe und einen kühleren Kopf brauchst als andere Mädchen?“
    Ich saß und starrte ihn mit offenem Mund an. Ich – ich armes kleines Ding, hatte ich Sex?
    „Johannes, war es deswegen…“
    „Ja, deshalb sandte ich dich damals fort, deshalb solltest du damals, als du sechzehn warst, nicht hier sein und Mamileins Freunden so oft begegnen. Deshalb mag ich es nicht, wenn du halbnackt auf der Bühne herumläufst.“
    Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Hundert verschiedene Gedanken schwirrten in meinem Kopf. Mamilein und ihre Gabe, alle Männer zu Verehrern zu machen. Direktor Bentsens stürmische Hofmacherei – ja, er hatte mir den Hof gemacht. Sein Tonfall, als er Mamilein erwähnte. Die Gedanken schwirrten weiter. Meine eigene Freude, mich auf der Bühne zu zeigen; das Gefühl, hübsch zu sein, dem Publikum gefallen zu wollen, in dem kurzen Augenblick, wenn ich über die Bühne lief. Und dann Torsten. Torstens Küsse. Torstens Fürsorge. Du liebe Zeit, war es denn dasselbe, das alle Männer fühlten, die Mamilein umsorgt hatten? Interessierte sich Torsten nur deshalb für mich? War nicht etwas anderes der Grund, etwas, das ich selbst war, als Mensch, als Frau?
    So weit war ich in meinen verworrenen Gedanken gekommen, als Johannes mich fragte.
    „Na, Vivi, du siehst so nachdenklich aus?“
    „Ist das so merkwürdig? Wenn du mir etwas so Schreckliches erzählst.“
    „Aber Liebes, ist das so schrecklich?“
    „Ja, das ist schrecklich. Ich will nicht, will nicht werden wie – ich will nicht, daß die Leute über mich reden wie…“ Ich brach ab, wollte nichts Verletzendes über unsere Mutter sagen. Aber meine Verwirrung war so groß, daß mir plötzlich die Tränen aus den Augen stürzten; ich rannte hinaus in mein Zimmer, und da flennte ich hemmungslos und hilflos und wußte nicht, warum ich heulte.
    Plötzlich fühlte ich Johannes’ Hand auf meinem Haar.
    „Na, na. Vivi, du bist doch ein sonderbares kleines Mädchen! Andere Mädchen würden sicher froh sein, so etwas zu hören. Aber du…“
    „Johannes, warum mußt du mir erzählen, daß ich gerade die Eigenschaft habe, die das Leben für dich und mich so erschwert hat und die unser Heim – “, wieder brach ich ab.
    „Das ist keine schlechte Eigenschaft, Vivi, wenn man nur außerdem einen kühlen Kopf hat und ein warmes Herz und eine gewisse Vernunft.“
    „Du verlangst so viel von mir. Meinst du, ich habe eine Eigenschaft, die mir soviel Verantwortung auferlegt?“ Seine Hand strich behutsam über mein Haar.
    „Denke nicht mehr daran. Willst du lieber so gut sein nachzusehen, wie es mit meinen weißen Hemden bestellt ist und glaubst du, daß du den Smoking aufdämpfen könntest? Oder wollen wir ihn zum Bügeln schicken?“
    „Nein, auf keinen Fall, das kann ich doch selber. Du fährst also zu dieser Weihnachtstagung?“
    „Das könnte ja ganz unterhaltend sein. Nur schade, daß du nicht mitfahren kannst.“
    Da stand ich auf und fühlte mich sicher und erwachsen, als ich sagte: „Nein, Johannes, das ist sogar sehr gut. Du hast lange genug deine Schwester immer mit dir herumgeschleppt. Jetzt sollst du an dich denken und es nett haben, und ich möchte wünschen, daß du ein ausnehmend süßes Mädchen triffst und dich bis über die Ohren verliebst.“
    Johannes lachte.
    „Dafür bestehen wohl nur geringe Aussichten. Die Damen, die ich treffen werde, sind sicher die Frauen der Briefmarkensammler. – Du wirst dich also meines Smokings annehmen?“
    „Mit Freuden.“
    Während ich dämpfte und bügelte, das Haus in Ordnung brachte und kochte, dachte ich über mein Gespräch mit Johannes beim Frühstück nach. Nie war ich mir so klein und ratlos vorgekommen.
    Am Abend in der Theatergarderobe war ich wortkarg. Es war Elsa, die die Unterhaltung führte. Sie erzählte mir von ihren Tournees. Elsa konnte lebendig und farbig berichten. Ich erinnere mich noch an zwei schlimme Geschichten, die sie erwähnte: einmal von ihrer Verlegenheit,

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