Mein grosser Bruder
werden.
„Ich habe mich so sehr in dir geirrt, Vivi. Ich war ein Riesenroß. Sei nicht böse auf mich. Du verstehst, du warst so warm, du warst so verteufelt süß, du bist so verteufelt süß, meine ich, wenn wir jeden Abend zusammen tanzen. Und wenn du so über das Geländer springst, und dann in der Garderobe in dem Bademantel – da bist du ein einziges Bündel von Charme, und ich konnte nicht wissen, daß…“
Lieber Gott, da war es also wieder. Ach, dieser alberne „Charme“.
„Hör nun endlich auf mit dem Unsinn, Torsten. Ich bin kein Vamp, es ist nichts Sonderbares an mir als das, daß ich ungeküßt blieb, bis ich beinahe zwanzig Jahre alt war. Ich gebe zu, daß dies merkwürdig genug ist, aber es ist doch wirklich kein Grund, mich so mißzuverstehen.“
Torsten streckte die Hand nach mir aus.
„Bist du böse auf mich, Vivi?“
„Nein, Torsten. Es war vielleicht nicht so sonderbar, daß du etwas so… so Dummes von mir geglaubt hast.“
„Komm und setz dich zu mir, Vivi.“ Er zog mich an seine Seite und legte mir den Arm um die Schultern. Es war gut, so zu sitzen, den Arm zu fühlen, der mich hielt und beschützte.
„Vivi, hör zu. Ich habe viel über das nachgedacht, was du mir gestern erzählt hast. Über deine Schwierigkeiten und all dies aus deiner Kindheit. Jetzt bin ich bange, daß es sich bei dir festsetzt und ein Komplex wird, dieses mit deiner… nun ja, deiner weiblichen Anziehungskraft.“
„Ich habe zu viele traurige Ergebnisse dieser sogenannten weiblichen Anziehungskraft gesehen, Torsten. Wenn du miterlebt hättest, wie es bei uns zu Hause zugegangen ist, wer sich alles angezogen fühlte…“
„Ja, aber, mein Schätzchen, du hast doch einen klaren Kopf, und vor allem hast du ein Gefühl für Anständigkeit. Vivi, es hängt nur von dir ab, ob diese Eigenschaft, deine weibliche Anziehungskraft, sich bei dir als eine – Gabe der Götter erweisen kann!“
Wir blieben still auf dem Sofa sitzen. Es wurde dunkel. Das Licht der Straßenlaterne draußen blitzte im Silber und den geschliffenen Glastellern auf dem Kaffeetisch.
„Wir müssen bald gehen, Torsten“, sagte ich leise nach einer Weile.
Torsten hielt den Arm in den Lichtschimmer und sah auf die Armbanduhr. „Noch zehn Minuten, Vivi.“
Er drückte mich fester an sich, ich streckte die Hand aus und zündete die Lampe auf dem kleinen Tischchen an. Da lag mein Strickzeug, ich hatte es nicht angerührt.
„Wie hübsch du strickst, Vivi. Ist es für dich selbst?“
„Oh, nein, das ist ein Männerpulli, ein Geschenk für Johannes.“
„Der hat Dusel“, sagte Torsten.
„Jetzt müssen wir aber gehen, Torsten.“
„Ja-“
Er beugte sich über mich. Seine Augen blickten in die meinen. Lange. „Vivi“, flüsterte er. Und dann küßte er mich.
Er küßte mich auf eine ganz andere Weise als in der Theatergarderobe. „Torsten“, flüsterte ich, „du sagtest doch…“
„Ich weiß, was ich sagte, Vivi. Daß man so ein Mädchen wie dich nicht küßt, ohne es ehrlich zu meinen.“
Er fand wieder meinen Mund, und plötzlich legte er seinen Kopf in meinen Schoß. Ich konnte nur noch mit Mühe hören, was er sagte: „Ich meine etwas damit, Vivi. Ich meine so schrecklich viel damit.“
So glücklich war ich, daß ich zu schweben glaubte. Ich dachte nicht an die Zukunft, dachte nicht daran, was aus Torsten und mir werden würde.
Ich lebte einfach im Augenblick und in den paar nächsten Tagen.
Elsa kam am Sonntag zu mir und half mir, Gläser und Geschirr hervorzuholen und für die Party bereitzustellen. Am Montag würde ich das Essen vorbereiten. Wir planten ein kaltes Büfett, so daß für mich nicht viel Arbeit blieb, wenn die Gäste gekommen waren.
Ich hatte neun Leute gebeten, außer Elsa und Torsten. Mit uns dreien waren es also zwölf, wenn alle kamen.
Elsa borgte mir Tanzplatten. Wir hatten wohl einen Plattenspieler, aber Johannes’ Platten eigneten sich schlecht, um danach zu tanzen.
Wir hatten überlegt, wen und wie viele ich einladen sollte. Schließlich einigten wir uns darauf, einfach alle Jüngeren aus dem Stück zu bitten. Aber wo lag die Grenze?
„Bei Steffen Brede“, sagte Elsa, „er ist gerade so alt, daß er nicht mehr zu den Jungen gehört.“
Ich stimmte ihr zu, außerdem konnte ich Steffen Brede nicht ausstehen.
Auf der Bühne sah er gut aus mit seiner großen, schlanken Figur. Niemand konnte ihm da ansehen, daß er über vierzig war.
Aber wenn man ihn aus der Nähe und ohne
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