Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
Vom Netzwerk:
neununddreißig Grad Fieber hatte und ganz benommen war. Glaubst du, so etwas ist ein Vergnügen?“
    „Bist du verrückt, Birger?“ fragte ich dazwischen. „Du hast mit neununddreißig Grad Fieber gespielt?“
    „Klar habe ich gespielt. Ich konnte doch die Vorstellung nicht schmeißen. An den großen Theatern im Ausland hat man immer eine zweite Besetzung. Da ist stets jemand da, der die Rolle gelernt hat und einspringen kann, aber so einen Luxus kann sich unser kleines Theater nicht leisten.“
    Elsa saß da und nickte zu allem, was Birger sagte.
    „Frage Tante Kristofa“, sagte er. „Sie kann dir viel erzählen. Von Schauspielern, die mit Magenkrampf gespielt haben, mit gräßlicher Migräne, mit Blinddarmentzündung, und die dann direkt nach dem Fallen des Vorhangs in den Krankenwagen getaumelt sind.“
    Nini lauschte mit großen Augen.
    „Darüber habe ich im Grunde nie nachgedacht“, murmelte sie.
    Jetzt kam Ida Börre, die feste Stütze und erste Kraft des Theaters für Soubretten-Partien, zu uns. Wir waren es gewöhnt, Ida immer in jener übersprudelnden Laune zu sehen, wie es ihre Rollen von ihr verlangten.
    „Entschuldigt, meine Herrschaften, daß ich die wertvollen Aufschlüsse meines Vorredners ergänze. Liebe, junge, unerfahrene und theaterbegeisterte Freunde! Am Todestag meiner Mutter spielte ich die Stasi in der Csardasfürstin. Ich bekam das Telegramm am Nachmittag. Zwei Stunden später saß ich da und schminkte mich und kämpfte mit den Tränen, die immer wieder meine Wimperntusche verdarben.“
    „Ida! Ist das wahr? Kann das Theater so grausam sein?“
    „Grausam, ja, das ist das richtige Wort, Vivi. Das Theater schluckt uns, mit Haut und Haar, läßt keine Sentimentalität zu, keine Müdigkeit, keine persönlichen Wünsche und Pläne. Es ist ein Sklaventreiber. Und wir opfern, wir opfern mit Freuden. Wir studieren, wir trainieren, wir tanzen, wir singen und treiben Gymnastik und führen einen ewigen, unermüdlichen Kampf gegen Runzeln und Alter. Seht mich an. Wißt ihr, wie alt ich bin? Fünfundzwanzig? Danke für das Kompliment. Ich bin siebenunddreißig, was glaubt ihr, kostet es mich, wie fünfundzwanzig auszusehen? Und wir träumen von unseren Wunschrollen, wir würden Jahre unseres Lebens darum geben, Ophelia oder Agnes oder Maria Stuart spielen zu können. Und dann müssen wir sehen, wie diese Wunschrollen andere erhalten. Eins kann ich euch sagen, liebe Kinder: die Eifersucht, die man fühlt, wenn der Geliebte sich einer anderen zuwendet, ist nichts gegen die Eifersucht, die man fühlt, wenn die ersehnte Lieblingsrolle eine andere bekommt. Und der Kampf, ehe man gelernt hat, zu resignieren, ist der bitterste Kampf auf der Welt.“ Ich blickte Ida an. Sie saß auf der Armlehne des Sofas und schaute gerade vor sich hin, während sie redete. Ihre Stimme hatte einen zitternd warmen Unterton. Eine ganz andere Ida saß dort als jene, die Abend für Abend die muntersten Kapriolen auf der Bühne machte, über die das Publikum vor Lachen brüllte. „Aber Ida, magst du denn deine Arbeit überhaupt nicht?“
    „Nicht mögen? Bist du total verrückt? Ich liebe sie! Sonst hätte ich es wohl nie fertiggebracht, so viel für sie zu opfern. Ich liebe den Kulissenstaub und den Geruch von Schminke und das Rampenlicht, und wenn ich gefalle, und das tue ich in der Regel – entschuldigt meine Unbescheidenheit! –, da liebe ich auch das Publikum. Weißt du nicht, daß der Hund auch seinen strengen Herrn lieben kann? Das Theater ist mein sehr strenger und unbarmherziger Herr, den ich liebe – beinahe demütig liebe.“
    Es folgte eine kleine Pause nach Idas Worten. Dann hob Birger sein Glas.
    „Prost, Ida. Das hat erleichtert, nicht wahr? Und ich glaube, wir können alle unterschreiben, was du gesagt hast. Es ist eine Mühsal. Das soll man wissen und darüber nachdenken und sich auf unwahrscheinliche Opfer und Enttäuschungen vorbereiten, wenn man den Schauspielerberuf ergreift. Denke daran, kleine Nini!“ Birger lächelte sie an, und als er ihr über die Wange strich, war Nini so selig, daß sie jeden seiner Ratschläge, auch den verrücktesten, befolgt hätte.
    „Vivi“, sagte Elsa, „jetzt habe ich Lust auf einen Kaffee. Hast du etwas in der Büchse?“
    Ich wollte mich erheben. „Bleibe du nur sitzen – Birger und Nini können mir helfen.“
    Bald darauf werkelten die drei in der Küche. Ida war in das Eßzimmer geschlendert. Einen Augenblick hatten Torsten und ich das Wohnzimmer für

Weitere Kostenlose Bücher