Mein grosser Bruder
ohne mich etwas erklären zu lassen, nagte und nagte an mir. Es wäre eine glatte Lüge, wenn ich behaupten würde, ich hätte einen Überschuß an Lebensfreude zu verschwenden gehabt. Aber trotzdem. Jedes, auch das leiseste Lächeln spiegelte sich in Johannes’ Gesicht wider und gab mir neue Stärke.
Ich las seine Bücher, manche davon verschlang ich geradezu. Ich sprach mit Johannes darüber und war oft stumm vor Staunen über all die Kenntnisse, die er besaß.
„Liebe Vivi“, schmunzelte Johannes, als ich ihn eines Tages offenkundig bewunderte, „die Bücher sind immer meine besten Freunde gewesen, und seine Freunde studiert man doch und lernt sie bis auf den Grund kennen.“
Das tat mir weh. Denn ich erinnerte mich, wie ich einmal Johannes ins Gesicht gesagt hatte, er hätte überhaupt keine Freunde.
Dabei war das meine Schuld, meine und Mamileins.
Wir hörten zusammen Musik, gingen in Konzerte, drehten das Radio an. Ab und zu besuchte uns Elsa, und sie nahm an unseren Interessen teil. Ihre Augen bekamen einen leuchtenden Ausdruck, wenn Johannes zu reden anfing.
Ein einziges Mal in dieser Zeit mußte ich weinen. Das war, als ich den halbfertigen Pulli wegräumte, den ich Torsten hatte schenken wollen.
Direktor Bentsen kam wieder in die Stadt. Diesmal war es selbstverständlich, daß Johannes ihn mit heimbrachte. Ich bat Elsa zu uns, und wir hatten alle zusammen einen netten Tag. Johannes war redseliger, als ich ihn je gehört hatte.
Die Gemütlichkeit, die wir Direktor Bentsen bei seinen Besuchen bieten konnten, trug gute Früchte. Johannes’ Chef wälzte gern einige gesellschaftliche Pflichten auf seinen Bürochef ab. Und für mich war es Ehrensache, den Gästen, die Johannes von Zeit zu Zeit mit heimbrachte, es so behaglich wie möglich zu machen. Ich legte mir einen kleinen Vorrat an Konserven zu und hatte immer einige Getränke zu Hause. Johannes wußte, daß auch ein unerwarteter Gast jederzeit willkommen war. Ich selbst empfand es als durchaus angenehm, daß ab und zu eine Schachtel Konfekt oder ein Blumenstrauß für mich abfielen. Ich nasche gern und liebe Blumen.
Johannes fuhr wieder zu einer Tagung des Philatelistenvereins nach Oslo. Diesmal waren dort Briefmarkensammlungen ausgestellt worden, und Johannes erhielt den zweiten Preis und viel Lob und Anregungen.
Direktor Bentsens Besuche wurden häufiger. Immer brachte er Leben und Lustigkeit mit sich. Und immer bestand er darauf, daß Elsa die vierte im Bunde sein sollte. Ich fragte Johannes, ob Bentsen wirklich so viele Geschäfte hier in der Stadt abzuwickeln hätte.
Da schmunzelte Johannes.
„Na, es sind wohl nicht bloß Geschäfte, die ihn hierherziehen. Das solltest du doch verstanden haben.“
Nun, das war deutlich genug!
Aber Johannes schien das nicht zu mißfallen. Im Gegenteil. Er konnte ja nicht wissen, daß ich mein Herz an einen Habenichts verloren hatte, der außerdem noch spurlos von der Bildfläche verschwunden war.
Es war vielleicht ganz natürlich, daß Johannes Bentsens Begeisterung für mich mit Freude betrachtete. Ein vielversprechender, tüchtiger Geschäftsmann, ein gutaussehender Herr Mitte Dreißig, für einen verantwortungsbewußten älteren Bruder mußte Bentsen der ideale Schwager sein.
Ich mochte ihn auch gern. Er brachte frischen Wind, Großstadtluft, Leben und Fröhlichkeit mit sich.
Bei einem seiner verdächtig häufigen Besuche rief er eines Morgens an. „Morgen, Vivi. Willst du leichtsinnig sein und heute mal deine Hausfrauenpflichten im Stich lassen?“
Auf Bentsens Vorschlag sagten wir alle längst du zueinander. „Wofür hältst du mich?“
„Doch, hör mal zu. Ich muß in den Langerudwald hinauf und ein Grundstück ansehen. Kannst du nicht mitkommen? Es ist so schönes Wetter. Ich möchte wetten, daß wir sogar Leberblümchen finden.“
„Ja, aber Johannes muß doch sein Mittagessen haben.“
„Kann er sich denn nicht dieses eine Mal selber helfen? Also, sag ja, oder soll ich den großen Bruder anrufen und artig fragen, ob du darfst?“
Ich willigte ein, rief Johannes an. Er war sofort einverstanden. Dann kam Helge Bentsen und holte mich mit einem Taxi ab.
„Das habe ich nun davon!“ sagte Helge.
„Was hast du wovon?“
„Ich habe die Notwendigkeit eines Taxis davon, daß ich immer fliege und also nicht meinen Wagen mitbringen kann. Aber das nächste Mal komme ich per Auto, dann können wir auch schöne Autofahrten machen.“
„Hast du feste Schuhe, Vivi? Es ist sicher naß
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