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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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Und dabei hast du noch nicht einmal alles gesehen. Hokuspokus!“ Er griff wieder in die Mappe, und plötzlich stand eine Flasche Wein mit zwei Gläsern da.
    „Willst du mich dazu bringen, mitten am Vormittag Alkohol zu trinken? Ich vertrage soviel wie eine Zwölfjährige.“
    Helge stand hinter mir. Er legte seine Wange an meine und ließ sie darübergleiten.
    „Du hast auch eine Haut wie eine Zwölfjährige“, sagte er, und seine Stimme war ganz leise.
    Aber gleich darauf war er wieder der alte. „Du mußt auf jeden Fall mit mir anstoßen, Vivi. Gratuliere mir zu dem Grundstück!“
    „Ehe du es gekauft hast?“
    „Ich hab es an der Hand. Kann es haben, wann es mir paßt.“ Er schenkte ein. Nun ja, gratulieren mußte ich ja. „Prost Vivi!“
    „Prost!“
    Es schmeckte süß und ganz wunderbar, schien auch gar nicht so besonders stark zu sein. „Wie wundervoll das schmeckt, Helge.“ Er leerte sein Glas und schenkte neu ein. „Trink aus, die Flasche ist groß.“
    Ich trank, und es war riesig gemütlich. Das Wetter war herrlich, und es war Frühling. Wenn Helge mich jetzt küssen wollte, würde ich nicht böse sein.
    „Du solltest nicht hier in der Zugluft sitzen, Vivi, die Frühlingsluft ist scharf.“
    Er zog mich mit sich in die Hütte auf die Bank und legte den Arm um mich.
    „Meine kleine Gazelle“, ich fühlte seinen Atem gegen meine Wange.
    Und was dann passierte, kam alles so wahnsinnig schnell. Seine Augen waren nicht mehr fröhlich, lieb und strahlend. Sie waren dunkel und verlangend. Seine Hände waren nicht mehr freundlich, sie waren gierig und rücksichtslos. Es war nicht mehr schön – es war schrecklich, und ich hatte Angst, Todesangst; ich war allein in großer, wahnsinniger Gefahr. Ich biß und schrie und strampelte, es gelang mir, mich loszureißen, ich bekam ein halbgeleertes Glas zu fassen und warf es ihm direkt ins Gesicht. Sein Schreck gab mir Zeit, hinauszustürzen, die Tür hinter mir zuzuschlagen. Ich sah den Schlüssel, den er steckengelassen hatte, drehte ihn herum und rannte fort. Nicht den Weg, den wir gekommen waren, sondern – in der anderen Richtung, über die kleine Anhöhe, weiter hinunter, gegen die andere Landstraße zu, die ich weit unter mir wie ein graues Band liegen sah.
    Ich hörte ein Geräusch hinter mir. Instinktiv warf ich mich nieder, lag flach hinter einem Stein. Ich hörte Bentsen rufen und traute mich nicht zu atmen. Mein Herz schlug bis zum Hals. Die Rufe klangen entfernter. Gott sei Dank! Er war nicht auf den Gedanken gekommen, daß ich den anderen Weg gelaufen sein konnte.
    Lange dauerte es, ehe ich mich hervorwagte. Niemand und nichts zu sehen!
    Ich fror so, daß ich mit den Zähnen klapperte. Ich steckte die Hände tief in die Taschen. Dabei merkte ich erst, daß ich den Schlüssel zur Hütte in der Hand hatte. In meiner Erregung wollte ich ihn wegwerfen, aber dann besann ich mich. Sollte es jemals notwendig werden, diese Geschichte zu belegen, dann hatte ich den Beweis in der Hand.
    Bis zur Hauptstraße war es sehr weit. Ich war müde, und während ich trabte, kullerten mir die Tränen über die Wangen. Zu allem Überfluß begann es auch noch zu regnen, ich fühlte mich elend wie nie zuvor.
    Ich war erleichtert, als ich endlich die Landstraße unter den Füßen fühlte; und beinahe glücklich, als eine halbe Stunde später ein Autobus auftauchte.
    Ich fror fürchterlich. Ich fühlte mich todkrank während der Stunde, die der Bus bis in die Stadt brauchte.
    Mit steifen Fingern fummelte ich an der Wohnungstür herum. Da wurde sie von innen geöffnet. „Aber, Vivi – liebes Kind, was ist denn mit dir los?“
    Ich versuchte, mich aufzurichten, versuchte, Johannes in die Augen zu sehen. Mit letzter Kraft antwortete ich: „Ich habe eine Autofahrt gemacht, Johannes. – Nach Langerud. – Mit einem Mann. – Aber diesmal brauchst du mich nicht zu verprügeln.“
    Dann schwankte ich, die Wand vor mir fing an, sich zu drehen, und ich fiel in die Arme meines Bruders.

Johannes und Elsa
     
     
    Die nächsten vierundzwanzig Stunden stehen unklar vor mir. Ich erinnere mich nur an einzelne Dinge. Ich weiß, daß ich aufwachte, und merkte, daß ich in meinem Bett lag. Dann döste ich wieder vor mich hin. Ob für Sekunden oder Stunden, weiß ich nicht. Ich erinnere mich an Johannes’ Stimme. Sie klang behutsam, voller Sorge: „Geht es dir besser, Vivi? Hast du Schmerzen?“ Ich glaube, ich antwortete, nein, ich sei bloß müde. Dann erinnere ich mich, daß

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