Mein grosser Bruder
Niemand mehr, die Augen sind mir aufgegangen für allerhand Dinge im Leben!“
Jetzt konnte Mamilein nicht mehr. Sie warf sich aufs Sofa und weinte, als ob sie geschlagen würde. Das schicke Hütchen glitt ihr über das eine Ohr, die blonden Haarwellen wurden zerzaust, und das wenige, was ich von ihrem Gesicht sah, war rot und glänzend und tränennaß.
Als ich so dasaß und sie anblickte, sank eine Art von müdem Frieden über mich. Die Bitterkeit und der Aufruhr legten sich. Ich wollte eigentlich noch viel mehr sagen. Aber nun war es mir gleichgültig geworden.
Ich saß ruhig da und schaute auf meine kleine wildschluchzende Mutter.
Und dann klingelte das Telefon.
„Guten Tag, Vivi.“
„Ach - Torsten!“
„Wo warst du gestern?“ Die Stimme war kalt und scharf.
„Bei meiner Mutter.“
„Da warst du also? - Vivi, ich wollte dir eine Chance geben, die Wahrheit zu sagen, aber die hast du jetzt verspielt.“
„Was meinst du denn?“
„Ich habe gesehen, wer dich gestern nacht heimbegleitete. Ich ging von Elsa kurz vor zwölf. Als du heim kamst, stand ich auf der anderen Seite der Straße. Und ich weiß auch…“
„Torsten warte, laß dir erklären…“
Aber die Stimme fuhr hart und unbarmherzig fort: „Ich weiß auch, daß Steffen Brede nicht zu Elsa kommen konnte, weil er ein Stelldichein mit einem charmanten kleinen Teufelsmädel hatte, ja – diese Worte stammen von ihm, ich habe sie selbst gehört. Gut, dann haben wir jetzt einander nichts mehr zu sagen.“
„Torsten – warte, ich kann es jetzt nicht erklären, ich bin nicht allein…“
„Nein, das will ich dir gern glauben.“
„Torsten, meine Mutter ist hier.“
„Schon wieder deine Mutter? Erfinderisch bist du ja nicht. Ich bin ein schrecklicher Esel gewesen, aber du hast mir eine kräftige Lehre erteilt, Vivi. Ich danke dir untertänigst dafür.“
„Ach, Torsten…“
Am anderen Ende der Leitung wurde der Hörer aufgelegt.
Als ich wieder ins Zimmer ging, war ich kalt und durch und durch wie versteinert.
Mamilein weinte nicht mehr. Sie saß auf dem Sofa und trocknete die Augen. Dann kam die Puderdose zum Vorschein. „Sei so gut und geh jetzt, Mutter, ich kann nicht mehr.“
„Vivi – es ist nur… hast du es Johannes erzählt?“
„Nein, Johannes glaubt, daß ich gestern auf einem Fest war. Nicht deinetwegen habe ich den Mund gehalten. Ich wollte Johannes nicht weh tun. Ich habe ihm auch nicht die Pfeife gegeben oder die Handtasche gezeigt. Das tue ich heute beim Mittagessen. Du warst heute hier und hast beides gebracht. Verstehst du?“
„Ja – jawohl, Vivi.“
„Und gelegentlich mußt du Alfred sagen, er soll es nicht vor Johannes erwähnen, daß Steffen Brede und ich bei dir waren. Gib als Grund an, daß Johannes es nicht gern sieht, wenn ich mit Steffen Brede zusammen bin. Bist du im Bilde?“
„Ja, Vivi.“
„Gut. Es ist leider nötig, diese Lüge zu gebrauchen. Gott gebe, daß es das letztemal ist, daß du deinen Mann anlügst.“
„Es… es soll das letztemal sein, Vivilein.“ Es kam flüsternd. Der Blumenstrauß, den sie mitgebracht hatte, blieb auf dem Tisch liegen.
„Du vergißt deine Blumen, Mutter.“
„Sie sind für dich, Vivi.“ Dann ging sie.
Ich packte die Blumen aus. Langstielige, duftende Rosen. Ich umfaßte sie so fest, daß die Dornen in meine Hand stachen. Ich ging hart und schnell durchs Zimmer und warf den Strauß ins Kaminfeuer.
Start am Geburtstag
Die Tage schleppten sich hin.
Ich hatte einen langen Brief an Torsten geschrieben. Lang, verwirrt und verzweifelt. Ich las ihn durch und warf ihn weg.
Schrieb einen neuen und warf auch diesen weg. Der, den ich schließlich sandte, bestand nur aus wenigen hilflosen Zeilen:
„Liebster Torsten!
Was Du von mir glaubst, ist erschütternd falsch. Du mußt mir eine faire Chance geben, mit Dir zu reden und alles zu erklären. Es ist wahr, daß S. B. mich heimbegleitete, sehr gegen meinen Willen, und es ist wahr, daß ich mich an jenem Abend bei meiner Mutter befand. Es ist ebenfalls wahr, daß sie bei mir saß, als Du anriefst. Torsten, mit geht es so elend. Dir kann ich alles erzählen, weil Du der einzige Mensch bist, der alles von mir und meiner Familie weiß und meine Schwierigkeiten kennt. Kufe mich an, sei so lieb. Und glaube mir, wenn ich sage, daß ich immer nur, nur Dein bin.
Deine Vivi.“
Ich bekam keine Antwort.
„Bist du krank, Vivi?“ Johannes’ Stimme klang besorgt. „Nein, Johannes, warum meinst
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