Mein grosser Bruder
du?“
„Du bist so dünn und siehst schlecht aus. Gibt es etwas, das dich bekümmert? Kann ich etwas für dich tun?“
Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Aber nein, lieber Johannes, ich bin ganz auf dem Damm. Vielleicht ist es der Gegensatz zu dem Theaterleben, der mir etwas zusetzt.“
„Das kann schon sein“, meinte Johannes. Dann sagte er mit heiterer Miene: „Willst du jetzt nicht Ernst machen mit der Stenografie und dem Maschinenschreiben, Vivi? Ich will dir diesen Kurs gern spendieren!“
„Tausend Dank, Johannes. Ja, ich will mich zu einem Kurs melden.“
Und das tat ich. Ich warf mich auf diese Arbeit und versuchte, alle Gedanken darauf zu konzentrieren. Ich hatte mich für norwegische und englische Stenografie gemeldet. Das war gut – um so mehr Arbeit kostete es.
Mein zwanzigster Geburtstag stand bevor. Johannes bestand darauf, daß wir den Tag feiern sollten. Ob ich nicht Lust hätte, eine Party zu geben?
Ich weigerte mich, versicherte, daß ich lieber mit ihm allein sein wollte. „Ja, aber Elsa?“
Doch ja, damit war ich einverstanden. Ich lud Elsa zum Mittagessen ein.
Blumen standen auf dem Frühstückstisch, und auf meinem Teller lag ein Juwelieretui. Es enthielt ein hübsches, schlichtes Goldarmband.
Vormittags kam Mamilein zu Besuch, mit Blumen und Geschenken. Diesmal landeten die Blumen nicht im Kamin. Mamilein blieb nur kurz. Ich glaube, wir waren beide erleichtert, als sie die notwendige halbe Stunde abgesessen hatte.
Aus einer Konditorei kam eine üppige Geburtstagstorte, „Vivi, 20 Jahre“ stand in Schokoladenglasur darauf. Johannes war wirklich rührend.
Ich kochte ein feines Mittagessen, und Elsa kam.
Während Johannes sein Mittagsschläfchen hielt, plauderte ich mit Elsa.
„Hör mal, Vivi, dir geht es elend, du brauchst gar nicht zu protestieren. Man sieht es dir ja deutlich genug an. Es ist etwas zwischen dir und Torsten. Und jetzt ist er fortgereist…“
Mir stockte der Atem. „Er ist weggereist?“ Dann hat er den Brief nicht bekommen, dachte ich gleichzeitig.
„Wußtest du das nicht? Er fuhr gleich am Tag nach meinem Fest fort. Na also, Vivi, was ist denn eigentlich zwischen euch beiden? Es geht mich ja nichts an, aber Torsten war so entsetzlich enttäuscht an dem Abend, als du nicht kamst, und dir geht es jetzt noch schlimmer. Kann ich irgend etwas für dich tun, dann sage es. Kann ich es nicht, dann habe ich einen Vorschlag für dich.“
„Wo ist Torsten denn hingefahren?“
„Ahne ich nicht. Aber er wollte länger fortbleiben. Doch was ich sagen wollte, Vivi: Weißt du, ich mag Johannes gern. Er ist sicher nicht besonders begeistert von mir. Ich gehöre für ihn ja zu dem bösen, leichtsinnigen Künstlervölkchen.“ Elsa sagte es lächelnd. „Aber trotzdem, ich habe ihn gern. Und ich bewundere ihn, ja, vielleicht mehr als irgendeinen Menschen. Du, Vivi, wenn nun das Dasein ziemlich leer für dich ist, könntest du dich nicht bemühen, etwas daraus zu machen, ihm einen Sinn zu geben?“
„Welchen denn, was meinst du?“
„Lehre Johannes, froh zu sein, Vivi. Da hast du meine ganze Weisheit in einem kurzen Satz. Erinnerst du dich noch an den Abend, als er in deine Gesellschaft platzte? Du tatest mir mächtig leid. Beinahe wäre das Ganze verdorben gewesen. Wenn ich damals nicht eingegriffen hätte, hätte es einen Skandal gegeben, nicht wahr? Aber noch mehr hat mir Johannes leid getan. Mit achtundzwanzig Jahren so alt zu sein! Aber sieh mal seine Augen an, Vivi, höre auf seine Stimme, wenn er ruhig und in guter Stimmung ist. In seinen Augen und in seiner Stimme liegt Wärme.“
„Und was soll ich tun, Elsa?“
„Ihn dazu bringen, daß er von sich selbst spricht, von seinen Interessen. Was weißt du eigentlich von deinem Bruder? Er ist zuverlässig in seiner Arbeit, hat einen Vertrauensposten, wie es heißt. Das wissen alle, die ihn kennen. Und er sammelt Briefmarken. Was mehr? Sieh dir sein Bücherregal an, Vivi. Liest du vielleicht mal etwas von seinen Büchern? Kann er seine Interessen mit dir teilen? Schau her, klassische Romane, moderne Romane, Reiseschilderungen, Biographien. Siehst du nicht, daß er ein reiches Innenleben hat, mit dem er allein ist? Allein, weil er keine Freunde hat. Und warum hat er keine: Weil er sein Leben dazu gebraucht hat, das Dasein für dich und deine Mutter in Ordnung zu halten. Er hat so viel für dich getan! Ist es nicht an der Zeit, daß du ihm nun etwas davon vergiltst? Lies doch mal ein paar seiner Bücher.
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